Mond über Manhattan
guten Tag zu sagen. Gemüsehändler, Zeitungsverkäufer, alte Leute, die allein spazieren gingen. Effing konnte sie alle an ihren Stimmen unterscheiden, und er sprach höflich, wenn auch etwas distanziert mit ihnen: ein Adliger, der von seinem Schloß herabgestiegen war, um sich unter die Dorfbevölkerung zu mischen. Er schien ihnen Respekt abzunötigen, und in den ersten Wochen wurde viel von Pavel Shum gesprochen, den sie offenbar alle gekannt und gemocht hatten. Die Geschichte seines Todes war im ganzen Viertel bekannt (einige hatten den Unfall sogar mit eigenen Augen gesehen), und Effing nahm manchen ernsten Händedruck und viele Beileidsbezeigungen entgegen und ließ die ihm gewidmete Aufmerksamkeit ruhig über sich ergehen. Es war bemerkenswert, wie elegant er sich zu benehmen wußte, wenn er wollte, wie genau er sich mit den gesellschaftlichen Konventionen auszukennen schien. «Das ist mein neuer Mann», pflegte er zu sagen, indem er in meine Richtung winkte. «Mr. M. S. Fogg, ein junger Absolvent der Columbia University.» Alles ganz anständig und korrekt, als wäre ich irgendein vornehmer Mensch, der sich von zahlreichen anderen Verpflichtungen losgerissen hatte, um ihn mit meiner Gegenwart zu beglücken. Ebenso verwandelt gab er sich in der Konditorei in der 72nd Street, wo wir manchmal eine Tasse Tee tranken, bevor wir den Heimweg antraten. Kein Schlabbern und Schlürfen, kein Geräusch kam von seinen Lippen. Unter den Augen von Fremden war Effing ein vollkommener Gentleman, ein wahres Musterbild des Anstands.
Beim Gehen konnten wir nicht viel miteinander reden. Wir sahen beide in dieselbe Richtung, und da mein Kopf so hoch über seinem war, gingen Effings Worte meist schon unter, ehe sie meine Ohren erreicht hatten. Um zu hören, was er zu mir sagte, mußte ich mich vorbeugen, und da er es nicht mochte, wenn wir stehenblieben oder langsamer wurden, hielt er sich mit seinen Bemerkungen zurück, bis wir an eine Kreuzung kamen und warten mußten, um die Straße zu überqueren. Wenn Effing mich nicht um Beschreibungen bat, ging er selten über kurze Erklärungen und Fragen hinaus: Welche Straße ist das? Wieviel Uhr ist es? Mir wird kalt. An manchen Tagen ließ er von Anfang bis Ende kaum ein Wort verlauten, gab sich, das Gesicht der Sonne zugewandt, nur der Bewegung des Rollstuhls über den Bürgersteig hin und seufzte leise, ganz versunken in das körperliche Wohlbehagen. Effing liebte es, die Luft an seiner Haut zu spüren, sich in dem unsichtbaren Licht zu aalen, das auf ihn herabströmte, und an Tagen, an denen es mir gelang, ihn gleichmäßig voranzuschieben und meine Schritte auf das Rollen der Räder abzustimmen, spürte ich, wie er allmählich in diesem Rhythmus aufging und sich wie ein Kleinkind im Kinderwagen zurücklehnte. Ende März, Anfang April begannen wir unsere Spaziergänge auszudehnen; wir ließen den Broadway hinter uns und unternahmen Streifzüge in andere Bezirke. Obwohl es jetzt wärmer war, hüllte Effing sich noch immer in dicke Sachen, und selbst an den mildesten Tagen lehnte er es ab, sich ohne seinen Mantel und eine karierte Decke um die Beine ins Freie zu wagen. Diese Kälteempfindlichkeit war so ausgeprägt, daß man glauben konnte, er habe Angst, sein tiefstes Inneres könnte Schaden erleiden, wenn er nicht drastische Maßnahmen ergriffe, es zu schützen. Solange ihm jedoch warm war, setzte er sich gern der frischen Luft aus, und nichts konnte seine Laune so heben wie eine schöne steife Brise. Wenn der Wind ihn anwehte, brach er unvermeidlich in Gelächter und Flüche aus, drohte den Elementen mit seinem Stock und machte überhaupt ein großes Theater. Selbst im Winter hielt er sich am liebsten im Riverside Park auf; dort konnte er stundenlang sitzen und schweigen, ohne jedoch, wie ich eigentlich erwartet hätte, einzunicken. Er lauschte einfach, versuchte mitzubekommen, was um ihn herum vorging: das Rascheln der Vögel und Eichhörnchen in Laub und Zweigen, den durch die Äste knatternden Wind, das Rauschen des Verkehrs auf dem Highway unter uns. Ich nahm dann auf diese Ausflüge in den Park immer einen Naturführer mit, damit ich die Namen von Sträuchern und Pflanzen nachschlagen konnte, wenn er mich danach fragte. Auf diese Weise lernte ich Dutzende von Pflanzen unterscheiden, untersuchte Blätter und Knospen mit einem Interesse und einer Neugier, wie ich sie für dergleichen nie zuvor empfunden hatte. Einmal, äs Effing in besonders empfänglicher Stimmung war, fragte
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