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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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! Kein Ding gleicht dem anderen, Sie Idiot, jeder Bauerntölpel weiß das. Ich will sehen, was Sie sehen, gottverdammich, ich verlange, daß Sie mir die Dinge vor Augen führen!» Es war demütigend, mitten auf der Straße so beschimpft zu werden; und da stand ich dann, während der Alte über mich herzog, und mußte es hinnehmen, daß die Leute sich nach dem Spektakel umdrehten. Ein paarmal geriet ich in Versuchung, einfach wegzugehen und ihn da stehenzulassen, aber Effing hatte im Grunde ja nicht ganz unrecht. Ich leistete wirklich keine sonderlich gute Arbeit. Mir wurde klar, daß ich es mir nie angewöhnt hatte, die Dinge genau zu betrachten, und als ich jetzt danach gefragt wurde, war das Ergebnis erschreckend unzureichend. Bis dahin hatte ich immer dazu geneigt zu verallgemeinern, eher die Ähnlichkeiten zwischen den Dingen zu sehen als ihre Unterschiede. Jetzt stürzte ich kopfüber in eine Welt von Einzelheiten, und die Bemühung, sie in Worten heraufzubeschwören und unmittelbare Sinneseindrücke lebendig werden zu lassen, stellte eine Herausforderung dar, auf die ich schlecht vorbereitet war. Um zu bekommen, was er wollte, hätte Effing sich von Flaubert durch die Straßen schieben lassen müssen - doch selbst Flaubert arbeitete langsam, mühte sich manchmal stundenlang ab, um einen einzigen Satz richtig hinzubekommen. Ich dagegen mußte die Dinge nicht nur exakt, sondern auch noch innerhalb von Sekunden beschreiben.
    Mehr als alles andere waren mir die unvermeidlichen Vergleiche mit Pavel Shum zuwider. Einmal regte mich das ganz besonders auf; da redete Effing minutenlang von seinem verstorbenen Freund, schilderte ihn als Meister des poetischen Ausdrucks, als unvergleichlichen Erfinder treffender und atemberaubender Bilder, als Stilisten, dessen Worte wie durch ein Wunder die fühlbare Wahrheit der Dinge enthüllten. «Und man bedenke», sagte Effing, «daß Englisch nicht mal seine Muttersprache war.» Das war das einzige Mal, daß ich ihm zu diesem Thema Kontra gab, aber ich fühlte mich von seiner Bemerkung so verletzt, daß ich nicht an mich halten konnte. «Wenn Sie eine andere Sprache hören wollen», sagte ich, «werde ich Ihnen gern den Gefallen tun. Wie war’s mit Latein? Ich werde von jetzt an Lateinisch mit Ihnen reden, wenn Sie wollen. Oder noch besser, ich spreche Jägerlatein. Damit dürften Sie ja keinerlei Schwierigkeiten haben.» Das war ziemlich dumm, und Effing wies mich auch gleich zurecht. «Halten Sie den Mund, Junge, reden Sie», sagte er. «Erzählen Sie mir, wie die Wolken aussehen. Beschreiben Sie mir jede Wolke am westlichen Himmel, jede einzelne, so weit Ihr Auge reicht.»
    Um Effings Wünschen nachzukommen, mußte ich erst lernen, mich von ihm loszumachen. Es kam alles darauf an, daß ich seine Anweisungen nicht als Last empfand, sondern sie in etwas verwandelte, das ich für mich selbst tun wollte. Schließlich war an dieser Tätigkeit im Grunde nichts Verkehrtes. Richtig betrachtet, war der Versuch, Dinge exakt zu beschreiben, genau die Art von Übung, die mich das lehren konnte, was ich vor allem lernen wollte: Bescheidenheit, Geduld, Disziplin. Anstatt also lediglich meine Pflicht zu erfüllen, begann ich meine Aufgabe als geistige Übung zu betrachten, als einen Lernprozeß, der mich lehren sollte, die Welt so zu sehen, als entdeckte ich sie gerade zum erstenmal. Was sieht man? Und wenn man etwas sieht, wie faßt man es in Worte? Die Welt tritt durch unsere Augen in uns ein, aber verstehen können wir sie erst, wenn sie uns durch den Mund geht. Langsam wurde ich mir bewußt, was für eine Entfernung dazwischenlag; ich begriff, wie weit etwas reisen muß, um vom einen Ort zum anderen zu gelangen. In Wirklichkeit waren es nur ein paar Zentimeter, aber in Anbetracht der zahlreichen Unfälle und Verluste, die unterwegs eintreten konnten, hätte es ebensogut eine Reise von der Erde zum Mond sein können. Meine ersten Versuche mit Effing waren kläglich ungenau, bloße Schatten, die über einen verschwommenen Hintergrund huschten. Ich kannte all diese Dinge doch, sagte ich mir, wie konnte es da irgendwelche Probleme geben, sie zu beschreiben? Ein Hydrant, ein Taxi, ein Dampfstrahl, der aus dem Bürgersteig strömte - all das war mir zutiefst vertraut, ich glaubte es in- und auswendig zu kennen. Aber damit ließ ich die Veränderlichkeit dieser Dinge außer Betracht, die Art und Weise, wie sie sich je nach Stärke und Einfallswinkel des Lichts

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