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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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enttäuscht als vielmehr von mir selbst, weil ich Effing so verkannt hatte. Es war ein zutiefst beschauliches Werk, eine stille Seelenlandschaft, und mich beschämte der Gedanke, daß es meinem verrückten Arbeitgeber irgend etwas bedeuten konnte.
    Ich versuchte Effing aus meinen Gedanken zu verdrängen, trat ein paar Schritte zurück und begann das Bild zu betrachten. In der Mitte der Leinwand - genau im mathematischen Mittelpunkt, wie mir schien - hing ein kreisrunder Vollmond, und diese bleiche weiße Scheibe beleuchtete alles, was über ihr und unter ihr war: den Himmel, einen See, einen großen Baum mit dürren Ästen, die niedrigen Berge am Horizont. Im Vordergrund waren zwei kleinere Landflächen, zwischen denen ein Bach dahinfloß. Am linken Ufer ein Indianerwigwam und ein Lagerfeuer; um das Feuer schienen einige Gestalten zu sitzen, die aber nur schwer zu erkennen waren, nur leiseste Andeutungen menschlicher Körper, vielleicht fünf oder sechs, die rot in der Glut des Feuers leuchteten; rechts von dem großen Baum, abseits von den anderen, saß ein einzelner Reiter zu Pferde und blickte über das Wasser - vollkommen reglos, als sei er tief in Gedanken versunken. Der Baum hinter ihm war fünfzehn oder zwanzigmal so groß wie er, und dieser Gegensatz ließ ihn mickrig und bedeutungslos erscheinen. Er und sein Pferd waren bloße Silhouetten, schwarze Umrisse ohne Tiefe und Individualität. Am anderen Ufer war alles noch unklarer, fast völlig in Schatten getaucht. Dort standen ein paar kleine Bäume, deren Äste ebenso dürr waren wie die des großen, und darunter, am unteren Rand, glomm eine winzige Spur von Helligkeit, die mir nach einer weiteren Gestalt auszusehen schien (auf dem Rücken liegend - vielleicht schlafend, vielleicht tot, vielleicht in die Nacht hinaufstarrend) oder nach dem Rest eines zweiten Feuers - ich konnte es nicht erkennen. Ich versank so tief in das Studium dieser dunklen Details in der unteren Bildhälfte, daß ich, als ich mich schließlich wieder dem Himmel zuwandte, schier darüber erschrak, wie hell in der oberen Hälfte alles war. Selbst unter Berücksichtigung des Vollmondes kam mir der Himmel allzu sichtbar vor. Die Farbe leuchtete unter der rissigen Lasur der Oberfläche mit unnatürlicher Intensität hervor, und je weiter ich dem Horizont entgegenschritt, desto heller wurde dieses Leuchten - als sei dahinten Tag, als seien die Berge von der Sonne beschienen. Als ich das endlich bemerkte, fielen mir auch andere Merkwürdigkeiten an dem Gemälde auf. Der Himmel zum Beispiel schimmerte größtenteils grün. Getönt von den gelben Rändern der Wolken, verwirbelte er neben dem großen Baum in einem konzentrischen Gestöber von Pinselstrichen, zog sich zu einer Spirale zusammen, einem Strudel himmlischer Materie im Weltraum.
    Wie konnte der Himmel grün sein? fragte ich mich. Er hatte dieselbe Farbe wie der See darunter, und das konnte nicht sein. Nur in der Schwärze der schwärzesten Nacht sind Himmel und Erde einander gleich, sonst nie. Blakelock, eindeutig ein virtuoser Maler, mußte das doch gewußt haben. Aber wenn er keine wirkliche Landschaft darstellen wollte, was hatte er dann im Sinn gehabt? Ich tat mein Bestes, um dahinterzukommen, aber das Grün des Himmels brachte mich immer wieder aus dem Konzept. Ein Himmel von der gleichen Farbe wie die Erde, eine Nacht, die aussieht wie der Tag, und alle menschlichen Figuren von der Riesenhaftigkeit der Szene zu Zwergen gemacht - unleserliche Schatten, bloße Symbole für das Leben. Mir lag nichts daran, irgendwelche wilden metaphorischen Urteile zu formulieren, doch schien mir das Bild mit seinen Beweisen gar keine andere Wahl zu lassen. Die Indianer verrieten trotz ihrer Kleinheit im Verhältnis zu ihrer Umgebung keinerlei Angst oder Besorgnis. Sie saßen behaglich da, in Einklang mit sich und der Welt, und je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr schien mir diese Gelassenheit das Bild zu beherrschen. Ich fragte mich, ob Blakelock etwa seinen Himmel grün gemalt habe, um diese Harmonie hervorzuheben, um die Beziehung zwischen Himmel und Erde besonders herauszustellen. Wenn die Menschen behaglich in ihrer Umgebung leben können, schien er zu sagen, wenn sie lernen können, sich als Teil der Dinge um sie her zu begreifen, dann kann man sich vielleicht auf der Erde heimisch fühlen. Das waren natürlich nur Mutmaßungen, aber ich hatte den Eindruck, daß Blakelock ein amerikanisches Idyll gemalt hatte, die Welt, die die Indianer

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