Mond über Manhattan
anderes als dieses Gemälde gäbe. Dann gehen Sie. Verfolgen Sie ihren Weg zurück durchs Museum, gehen Sie hinaus und zur U-Bahn. Nehmen Sie den Express nach Manhattan, steigen Sie an der 72nd Street um, und kommen Sie hierher zurück. Während der Fahrt verhalten Sie sich wie auf dem Hinweg: die Augen geschlossen halten, mit niemandem reden. Denken Sie an das Bild. Versuchen Sie es vor Ihrem inneren Auge zu sehen. Versuchen Sie sich daran zu erinnern und so lange wie möglich dabei zu bleiben. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?»
«Ich glaube schon», sagte ich. «Sonst noch etwas?»
«Nein. Nur denken Sie daran: Wenn Sie nicht genau das tun, was ich Ihnen gesagt habe, werde ich nie mehr ein Wort mit Ihnen reden.»
Ich hielt meine Augen in der Bahn geschlossen, doch war es schwierig, an nichts zu denken. Ich versuchte mich auf einen kleinen Stein zu konzentrieren, aber auch das war schwieriger, als man glauben könnte. Um mich herum war es zu laut, zu viele Leute redeten und drängelten sich an mich. Damals gab es in den Waggons noch keine Lautsprecher, die die Haltestellen ansagten, und ich mußte im Kopf mitverfolgen, wo wir gerade waren, zählte an den Fingern die Haltestellen ab: eine weniger, blieben noch siebzehn; zwei weniger, blieben noch sechzehn. Zwangsläufig mußte ich den Gesprächen der Passagiere zuhören, die in meiner Nähe saßen. Ihre Stimmen drängten sich mir auf, dagegen konnte ich überhaupt nichts machen. Bei jeder neuen Stimme, die ich hörte, wollte ich die Augen aufmachen, um den dazugehörigen Menschen zu sehen. Diese Versuchung war fast unwiderstehlich. Sobald man jemanden sprechen hört, macht man sich im Geist ein Bild von ihm. Binnen Sekunden erfaßt man alle relevanten Informationen: Geschlecht, ungefähres Alter, soziale Schicht, Geburtsort, sogar die Hautfarbe des Sprechers. Wenn man sehen kann, empfindet man den natürlichen Drang, mit eigenen Augen nachzuprüfen, wie nahe dieses geistige Bild der Wirklichkeit kommt. Meist kommt es ihr ziemlich nahe, aber manchmal macht man auch erstaunliche Fehler: Professoren, die wie Lastwagenfahrer reden, kleine Mädchen, die sich als alte Frauen entpuppen, Schwarze, die sich als Weiße herausstellen. Daran mußte ich immer wieder denken, als der Zug durch die Finsternis ratterte. Während ich mich zwang, die Augen geschlossen zu lassen, begann ich mich nach einem Blick auf die Welt zu sehnen, und diese Sehnsucht machte mir klar, daß ich im Grunde darüber nachdachte, was es hieß, blind zu sein, und daß genau das Effings Absicht gewesen war. Diesen Gedanken verfolgte ich minutenlang. Und dann merkte ich, daß ich mit dem Abzählen der Haltestellen nicht mehr mitgekommen war, und geriet in Panik. Wenn ich nicht zufällig gehört hätte, wie eine Frau jemanden fragte, ob als nächstes Grand Army Plaza käme, wäre ich vermutlich glatt bis zur Endstation in Brooklyn durchgefahren.
Es war ein winterlicher Vormittag mitten in der Woche, und das Museum war fast völlig leer. Nachdem ich vorn meinen Eintritt bezahlt hatte, hielt ich dem Mann im Aufzug fünf Finger hin und fuhr schweigend nach oben. Die amerikanischen Gemälde befanden sich in der fünften Klage, und abgesehen von einem dösenden Wächter im ersten Raum war ich der einzige Mensch in dem gesamten Flügel. Das gefiel mir, denn es schien den Ernst der Angelegenheit irgendwie zu steigern. Ehe ich den Blakelock entdeckte, durchschritt ich mehrere leere Räume, wobei ich mein Bestes tat, Effings Anweisungen zu befolgen und die anderen Bilder an den Wänden zu ignorieren. Ich sah ein paar Farben aufblitzen, registrierte ein paar Namen - Church, Bierstadt, Ryder -, bezwang aber die Versuchung, sie mir genauer anzusehen. Und dann stand ich vor Moonlight, dem Ziel meiner seltsamen und ausgeklügelten Reise, und in diesem ersten, überraschenden Augenblick empfand ich unwillkürlich Enttäuschung. Ich weiß nicht, was ich eigentlich erwartet hatte - vielleicht irgend etwas Grandioses, eine grelle und auffallende Demonstration von oberflächlicher Meisterschaft -, aber gewiß nicht das düstere kleine Bild, das ich jetzt vor mir sah. Es maß nur achtundsechzig mal einundachtzig Zentimeter und schien auf den ersten Blick beinahe farblos: dunkelbraun, dunkelgrün, in einer Ecke ein ganz leiser Hauch Rot. Zweifellos war es eine gute Arbeit, bot aber nichts von der sinnfälligen Dramatik, die ich Effings Geschmack zugetraut hatte. Vielleicht war ich gar nicht so sehr von dem Bild
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