Mond über Manhattan
bewohnt hatten, bevor die Weißen sie zerstörten. Das Bild war 1885 entstanden, wie die Tafel an der Wand besagte. Wenn ich mich recht erinnerte, lag das zeitlich fast genau in der Mitte zwischen dem letzten Gefecht Custers und dem Massaker bei Wounded Knee - mit anderen Worten: ganz am Ende, als man die Hoffnung aufgeben mußte, daß irgend etwas davon eine Chance zum Überleben habe. Vielleicht, dachte ich, sollte dieses Bild für all das stehen, was wir verloren haben. Es war keine Landschaft, sondern ein Denkmal, ein Abgesang auf eine verschwundene Welt.
Ich blieb über eine Stunde bei dem Gemälde. Ich trat davon zurück, ich ging ganz nah heran, ich lernte es allmählich auswendig. Ich war mir nicht sicher, ob ich entdeckt hatte, was Effing von mir erwartete, doch als ich das Museum verließ, glaubte ich jedenfalls etwas entdeckt zu haben, auch wenn ich nicht wußte, was. Ich war erschöpft, vollkommen ausgelaugt. Als ich wieder im IRT-Express saß und die Augen schloß, konnte ich mich nur mit Mühe am Einschlafen hindern.
Es war erst kurz nach drei, als ich in die Wohnung zurückkam. Mrs. Hume zufolge machte Effing ein Nickerchen. Da der Alte um diese Tageszeit sonst nie schlief, kam ich zu dem Schluß, daß er mich bloß nicht sprechen wollte. Das war mir recht. Ich war auch nicht in der Stimmung, mit ihm zu reden. Ich trank mit Mrs. Hume eine Tasse Kaffee in der Küche, zog dann meinen Mantel an, verließ die Wohnung und fuhr mit dem Bus nach Morningside Heights. Um acht Uhr war ich mit Kitty verabredet, und bis dahin wollte ich in der Kunstbibliothek der Columbia ein paar Nachforschungen anstellen. Die Informationen über Blakelock erwiesen sich als dürftig: hier und da mal ein Artikel, ein paar alte Kataloge, alles ziemlich unergiebig. Aber als ich die Bruchstücke zusammenfügte, sah ich, daß Effing mich nicht belogen hatte. Das war der Hauptgrund meines Kommens gewesen. Er hatte gewisse Details und zeitliche Abläufe durcheinandergebracht, aber alle wichtigen Fakten entsprachen der Wahrheit. Blakelock hatte ein erbärmliches Leben geführt. Er hatte gelitten, er war verrückt geworden, er war nicht beachtet worden. Bevor man ihn in die Anstalt sperrte, hatte er tatsächlich Geldscheine mit seinem eigenen Porträt gemalt - aber nicht Tausend-Dollar-Scheine, wie Effing gesagt hatte, sondern Millionen-Dollar-Scheine, unvorstellbare Beträge. Er hatte als junger Mann den Westen bereist und unter den Indianern gelebt, er war unglaublich klein gewesen (unter eins fünfzig, weniger als neunzig Pfund schwer), er hatte acht Kinder gehabt - all das stimmte. Mit besonderem Interesse nahm ich zur Kenntnis, daß einige seiner Frühwerke aus den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts im Central Park entstanden waren. Er hatte die Hütten gemalt, die dort standen, als der Park noch neu war, und als ich die Reproduktionen dieser ländlichen Szenen im ehemaligen New York betrachtete, mußte ich unwillkürlich an die elende Zeit denken, die ich selbst dort verbracht hatte. Ich erfuhr auch, daß Blakelocks beste Jahre als Künstler dem Malen von Landschaften im Mondschein gewidmet gewesen waren. Es gab Dutzende von Bildern im Stil des einen, das ich im Brooklyn Museum gesehen hatte: der gleiche Wald, der gleiche Mond, das gleiche Schweigen. Immer war auf diesen Bildern der gleiche Vollmond: ein kleiner, vollkommen runder Kreis in der Mitte der Leinwand, sehr bleich und weiß. Nachdem ich mir fünf oder sechs davon angesehen hatte, begannen sie sich allmählich von ihrer Umgebung loszulösen, und ich vermochte sie nicht mehr als Monde zu sehen. Sie wurden zu Löchern in der Leinwand, zu weißen Öffnungen, durch die man in eine andere Welt hineinsah. Vielleicht Blakelocks Auge. Ein leerer, im Raum hängender Kreis, der auf Dinge hinabblickte, die es nicht mehr gab.
Am nächsten Morgen schien Effing bereit, zur Sache zu kommen. Ohne Blakelock oder das Brooklyn Museum zu erwähnen, wies er mich an, zum Broadway zu gehen und ein Notizbuch und gutes Schreibzeug zu kaufen. «Es ist soweit», sagte er, «der Augenblick der Wahrheit ist da. Heute fangen wir an zu schreiben.»
Als ich zurückkam, setzte ich mich wieder auf die Couch, schlug das Notizbuch auf der ersten Seite auf und wartete, daß er den Anfang machte. Ich nahm an, er würde zum Aufwärmen ein paar Daten und Fakten aufzählen - sein Geburtsdatum, die Namen seiner Eltern, die Schulen, die er besucht hatte - und sich danach den wichtigeren Dingen
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