Mondgeschöpfe (Phobos)
Bild wurde in Julian wieder wach und begann ein eigenes Leben zu entfalten. Die Dinge sind nicht, was sie zu sein scheinen. Glaube nicht, was du siehst! Das ist keine lebensvolle Zartheit. Das ist ein Machtkampf. Und auch wenn es sehr hübsch anzusehen ist, was die beiden da treiben: Das ist der Dämon!
Aber dieser Dämon ist sehr schön, sagte Julian in sich hinein. Dieser Dämon ist sehr gefährlich, entgegnete Choki, er will dich hilflos machen. Du hast seine Grausamkeit doch schon einmal gespürt. Es ist noch keine drei Wochen her.
"Nimm dein Schwert!", sagte Julian von der Türe her zu Cassia, und seine Stimme klang, als würden Stücke zersplitterter Eisschollen über einen zugefrorenen Teich schlittern.
Cassia fragte mit höhnischem Ton: "Jetzt?"
Julian gab keine Antwort.
"Mein Gott, bist du ein Langweiler !", versuchte Cassia ihn zu provozieren. "Du hast verloren, meinst du nicht? Oder willst du mich und Eleonore umbringen, wie du Gordon umgebracht hast?"
Aber Julian antwortete wieder nicht.
Eleonore sah jetzt ebenfalls auf. Ihre Augen blieben halb geschlossen. Sie schien nicht so recht zu verstehen, was geschah. Aber sie spürte, wie Cassia sich verhärtete.
Cassias Stimme befahl Julian: "Geh’ schon 'runter. Ich komme nach, wenn ich mich gerüstet habe." Wie selbstverständlich setzte sie voraus, dass Julian fair kämpfen und sie nicht einfach au f dem Bett abschlachten wollte. Gordon hätte es wahrscheinlich getan, eines Tages. Und wenn Julian sie nicht zu Gordons Erbin gemacht hätte. Eigentlich müsste sie ihm dankbar sein.
Wortlos drehte Julian sich um und stieg die Treppe hinunter.
Cassia lächelte Eleonore an: "Da geht ein sehr dummer Mann, der sein Fett weg haben will."
Eleonore stand auf, noch immer benommen durch den Wechsel der Szene und der Stimmung. Cassia erhob sich und begann sich vorzubereiten.
Auf der Treppe schon machte sich Julian heftige Vorwürfe. Es war wieder passiert. Er hatte das Heft an Cassia abgegeben. Julian betrat den Raum, der mit so vielen traumverlorenen Erinnerungen behaftet war, allerdings auch mit der Erinnerung an den Sturz aus dem Traum heraus. Julian kniete nieder, wie er es vor jedem Kampf zu tun pflegte, zog das Langschwert aus der Scheide und hielt es einen Augenblick waagerecht mit beiden Händen über seinen Kopf. Ganz sachte näherte er seine aufgewühlte Stirne dem kühlenden Metall.
"Kalter Geist schlägt heißen Stahl zum tödlichen Schwert,
kalter Stahl schlägt heiße Wunden lebendigen Herzen."
Julian musste lächeln. Wenn ihm solche Verse kamen, war er bereit. Das war das Zeichen. Cassia sollte sich nur nicht täuschen. Sicher würde sie eine Falle für ihn vorbereiten. Aber Choki in ihm würde die Falle für ihn zu einer Falle für sie werden lassen. Julian legte das Schwert vor sich auf den Holzboden.
Die gegenüberliegende Tür flog auf. Cassia glitt in den Raum. Sie war mit kalten, glatten Lederstücken bekleidet, die Schultern und den Halsansatz durch bläulich schimmernden Stahl geschützt. Ihr Gesicht hielt sie hinter einer schrecklichen Maske verborgen. Julian zuckte zusammen. Die verbissene, gefährliche Visage Chokis grinste Julian an.
Der Schock zitterte in Julian nach. Sie hatte ihn durchschaut. Julian sog zischend seinen Atem ein. Sein Brustkorb weitete sich. Die Luft ausstoßend ließ er sein Kiai , seinen Kampfschrei ertönen, der wie Donnergrollen klang. Gleichzeitig schoss er aus der knienden Haltung hoch, wirbelte das Schwert hoch, verharrte dann in seiner Ausgangsposition. Cassia reagierte, indem sie sich frontal Julian gegenüber in den breitbeinig tiefen Stand herabließ. Choki grinste Julian an, böse und hinterhältig. Zum ersten Mal, seit Julian Chokis Geist nutzte, bekam er Angst vor ihm. Stand er wirklich auf seiner Seite?
Julian taumelte. Dabei war nichts geschehen. Cassia hatte sich nicht einen Millimeter bewegt. Chokis Maske konnte ihren Ausdruck nicht verändert haben, aber Julian schien es, als habe sie ihr zerstörerisches Lächeln noch vertieft.
Cassia und Choki verschwammen vor seinen Augen. Julian brach in die Knie. Wie durch Watte sah er Cassia stiefelbewehrten Fuß auf sich zurasen. Dann fiel er in einen tiefen, dunklen Brunnen. Cassia trat dem liegenden Julian gegen den Kopf. Sie winkte zu dem Zweiwegespiegel hinüber. Die Türe neben dem Spiegel öffnete sich. Eleonore erschien. Auch sie sah erschreckend aus. Ihr hübsches schmales Gesicht war ebenfalls mit einer Maske, allerdings mit einer modernen
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