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Mondgeschöpfe (Phobos)

Mondgeschöpfe (Phobos)

Titel: Mondgeschöpfe (Phobos) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Schuck
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sich, Geld für Seife und ähnliches Zeug auszugeben. Er wusch sich mit den Waschmitteln, die seine Mutter zum Waschen benutzte. Das hatte ihm den Spitznamen Coin eingebracht. Coin war damals ein gängiges Waschmittel. Er wohnte mit seinen 22 Jahren immer noch zu Hause. Sein Haar hatte er zum Entsetzen seiner Mutter abrasiert. Der kahle Kopf machte ihn zum Anziehungspunkt für die Skinheads unter den Zuschauern.
    "Sie saugen uns aus wie dicke weiße Maden..."
    Kevin fiel mit ein. Gleichzeitig ließ er den heavyverzerrten Sound seiner Gitarre aufheulen. Kevin hatte dieses Lied gemacht, so wie er alle Lieder für DEATHVILLE textete und musikalisch prägte. Kevin warf beim Singen sein langes lockiges Haar wild vor und zurück. Sein schmales Gesicht und seine schmalen Augen gaben ihm diesen gewissen Ausdruck meditativ- geisterhafter Entrücktheit, wie sie sich spätestens mit CULT in der Heavy Metal Szene etabliert hatte.
    "...doch sie haben ein Konto und 'ne ständige Mieze zu Haus..."
    Kevin hatte den Song geschrieben, als er mit 20 immer noch keinen vernünftigen Job gefunden hatte. Nach seiner abgebrochenen Lehre war er zwei Jahre arbeitslos gewesen. Jetzt wollte ihn keiner mehr. Voller Wut, voller Hass auf die "Normies", die so genannten normalen Menschen, kamen ihm die Antisprüche locker von der Lippe.
    "Sie haben 'ne Wohnung mit Polstergarnitur,
    mit Fenstern und Stores und TV.
    Sie leben so wie die Bosse wollen,
    mit Versicherungen und Schulabschluss,
    fleißig und pflichtbewusst.
    Mit kirchlicher Hochzeit im weißen Kleid
    und Skatrunde samstags und Besoffensein,
    an Himmelfahrt 'nen Kegelausflug..."
    Schimmel, der Drummer schlug voll zu. Aus einer Laune der Natur heraus hatte er weiße Haare abbekommen. Kurzgeschnitten wirkten sie wie der weiße Schimmel auf Edelcamembert. Schimmel schuf mit seinem Schlagzeugsolo den Übergang zu den leisesten zwei Zeilen in dieser Strophe:
    "…und Blumenstrauß am Hochzeitstag…
    und Eichensarg am Todestag... "
    Schimmel hatte ebenfalls keine regelmäßige Arbeit. Dafür besaß er Führerscheine der Klassen III und I, die er bei der Bundeswehr gemacht hatte. Deshalb konnte er ab und zu den Bus fahren, mit dem Herbie Hell, der dynamische Manager von DEATHVILLE, seine HELLTOURS in die düstersten Orte der Republik durchführte.
    "So leben sie ihr ganzes langes Leben."
    Die Begleitung dröhnte jetzt wieder lauter.
    "Denn meistens werden sie ziemlich alt."
    Meisterhaft getroffen, dachte Schimmel. Wir werden bestimmt nicht sehr alt. Und er knallte ins Schlagzeug, was er nur drin hatte. Sie dachten oft ans Sterben, die ganze Gruppe. Wer wollte in dieser verschissenen Welt auch schon alt werden?
    "So verzieren wir ihr ganzes langes Leben,
    mit unseren Feelings und unserem Lachen,
    mit unseren Ideen und unsern Phantasien,
    mit unseren Träumen und unserem Leiden..."
    Very ließ den ROLAND- Verstärker ausflippen. Wenn er nicht gerade Bass spielte, machte er an der Technik herum, was die restliche Band nicht immer freute. Aber an dieser Stelle war es okay, da musste es laut kommen, da musste Energie abgehen und ins Publikum knallen, denn jetzt kam die Zeile, die es brachte:
    "...dauernd beißen wir für sie ins Gras..."
    Das war der Satz, der ihrer aller ständiges Scheitern gewissermaßen bündelte. Er gab dem ganzen Mist, der 1985 politisch die Situation der Jugendarbeitslosigkeit geschaffen hatte und dem ihre labilen Persönlichkeiten nicht gewachsen gewesen waren, so etwas wie einen Sinn. Man fand sich zusammen in einer tödlichen Ästhetik des Scheiterns. Dieses "Ins Gras beißen" symbolisierte jenen negativen Heroismus (plus einer Doppelportion Selbstmitleid). Das roch nach ausgeflippten Geländemaschinen, mit denen sie, wenn sie Geld für Benzin hatten, halsbrecherisch durch die Trümmerlandschaft der ehemaligen Kokerei donnerten. Das roch nach wilden Schlägereien. Das roch nach Acid, nach Crack und nach Pattex. Das tat einfach gut.
    Die Stunde des Synthesizers schlug. Örmel ließ den Sound, der entfernt an Steeldrums erinnerte, ins Publikum springen wie ein wildes Tier. Örmel konnte nicht eine Note lesen. So einen Quatsch würde er auch nie versuchen. Aber mit dem Synthesizer wilden Sound machen und bei jedem Tastengriff aussehen, als drehe er irgendeinem imaginären Gegner den Hals um, das war etwas Anderes. Da fuhr er drauf ab. Würgegriffe an der Tastatur.
    Mit 17 war er noch auf der Hauptschule gewesen. Aber mit der Zeit bekamen immer mehr Lehrer Angst vor ihm. Sie

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