Mondgeschöpfe (Phobos)
noch gefährlicher. Aurim dachte: Das kann jeder sein, der da spricht.
"Würdest du noch nicht einmal aus Angst vor dem Sterben vorgeben, dass du die kunstvolle Präzision tödlicher Systeme bewunderst?" , erklang es für Aurim.
"Nein!", beharrte Aurim. Er gewann mehr und mehr den Eindruck, dass ihm nur schonungslose Offenheit hier heraushelfen würde.
"Würdest du noch nicht einmal aus Angst vor dem Leiden vorgeben, dass du tödliche Systeme akzeptierst?"
"Nein!", sagte Aurim mit Nachdruck und seine Stimme zitterte nicht.
"Du weißt noch nicht, was Leiden ist", klang es in ihm auf.
Das violette Licht begann sich auf seinen rechten Arm zu konzentrieren. Blasen entstanden auf seinem Handrücken, platzten und entließen eine gelbgrüne Flüssigkeit, die zäh wie Altöl auf den Boden zu tropfen begann. Das rohe Fleisch unter der Haut begann sich zu zersetzen, als würde es mit Schwefelsäure zerträufelt. Flammender Schmerz zuckte in Aurim hoch und warf ihn auf die Knie.
"Keine Angst? Keine Lüge?", tönte die entpersonalisierte Stimme.
Aurim gab keine Antwort. Das Entsetzen und der Schmerz waren zu groß. Die Unmöglichkeit des Geschehens machte ihn fassungslos. Der ganze Raum begann sich vor seinen Augen zu drehen.
Aus dem Nichts heraus schob sich eine glänzende Metallwand vor seine aufgerissenen Augen. Die Wand war so blank poliert, dass er sein ganzes Spiegelbild sehen konnte. Aurim erkannte, dass das violette Licht seine Schulter erfasst hatte, den Hals hinauf kroch und sein Gesicht zu verunstalten begann. Seine Gesichtszüge schienen zu zerfließen, wie ein Abbild auf einer Teichoberfläche. Der kleine Diamant, den er sich mit einem Stecker in die Nasenwand hatte bohren lassen, schwamm über die Reste seines Nasenflügels, fiel zu Boden und versank in dem grünlichen Schleim, der sich zu Aurims Füßen angesammelt hatte. Er begann zu schreien. Gleichzeitig erfasste ihn tiefe Hoffnungslosigkeit. Nie war er sich so ausgeliefert vorgekommen wie jetzt.
Er erkannte die Sinnlosigkeit aller Bemühungen, einer solchen Situation zu entkommen. In ihm flüsterte eine raue Stimme, dass dieses Geschehen ihm eigentlich nur im Zeitraffer zeigte, was eines Tages doch mit ihm geschehen würde. Vielleicht würde es ihm nicht bei lebendigem Leibe geschehen. Aber letztlich war die Auflösung unausweichlich. Dieser Gedanke blieb jedoch nicht beim Phänomen des Zerfalls stehen, sondern mahnte auch noch etwas an, was darüber hinausging. Plötzlich war das Ende aller Schmerzen erreicht, früher, als Aurim es erwartet hätte. Nicht gnädige Ohnmacht begann ihn zu umfangen, sondern ein Zustand extremer, hellsichtiger Aufmerksamkeit. Die Bandbreite seiner Wahrnehmung zerdehnte sich ins Unendliche. Als würde er seine natürlichen Grenzen verlassen und das Zentrum seines Ichs aus dem schmerzverzerrten Körper heraus in allem anderen, in diesen Mauern, den Wiesen darum herum, dem Wald, den Sternen festmachen können. In Aurim fand der Ausgleich statt, der in der Welt den Rhythmus zwischen Zerfall und Wachstum schafft und damit Leben.
Er war frei. Im Zustand höchster Bedrängnis und absoluter Hoffnungslosigkeit fühlte er plötzlich eine Freiheit, die er noch nie erlebt hatte. Er begann zu lachen, während ihm die Zähne ausfielen. Er spuckte sie aus. Das violette Licht schien zu zögern. Die Tödliche Kraft begann zu erkennen, dass Aurims Lachen nicht etwa ein Zeichen von Verrücktheit, dem normalen Ausstieg der Bedrängten aus der Tortur war, sondern ein Zeichen von Freiheit.
Das violette Licht begann zurückzuweichen und gab Aurim frei. Die Stimme der Tödlichen Kraft wurde immer leiser und schien sich in einer kleinen Lichtkugel zu konzentrieren, die ein gleichmäßiges, geradezu angenehmes Licht auszusenden begann. Aurim erkannte den Weg aus der Höhle hinaus. Draußen war die Sonne aufgegangen. Er schleppte sich ins Freie und taumelte auf die Wiese, die den Hügel umgab. Frische Morgenluft umfing hin.
Die Kühle brannte auf seinen frischen Wunden. Aurim taumelte auf die Grabreihen zu. Er wusste, dass sein Gesicht und sein Körper nie mehr so werden würden wie früher und dass er tiefe Narben zurückbehalten würde. Aber dass er diese Begegnung mit der Tödlichen Kraft überwinden würde, stand für ihn außer Zweifel. Aurim räkelte seinen großen Körper in der Morgensonne. Die Nacht war gestorben. Er lebte.
MYLADY
Butler Tweeford zog die doppelflügelige Eichentüre ganz leise hinter sich ins Schloss. Wie immer
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