Mondherz
großen Schritten voranging. Er hatte ihr auch geschrieben, dass ihnen der türkische Spion wohl endgültig entwischt war, und zwischen den Zeilen las sie von seinem Frust. Warum nur war den beiden Männern dieser Spion so wichtig?
Von Gábor hatte sie bisher nichts gehört. Oft grübelte sie über ihn nach. Ob es irgendjemanden gab, der sein Verhalten wirklich zu deuten wusste? Erschien er doch sogar jenen als fremd und unzugänglich, die ihn seit Jahren kannten. Michael und Pavel zumindest trauten ihm nicht vollkommen.
Beide hatten sie vor ihm gewarnt. Michael schien mit seiner Abneigung gegen Gábor allerdings seine eigenen Interessen zu verfolgen. Zuerst hatte sie geglaubt, dass dabei vielleicht Eifersucht eine Rolle spielte, doch auch er hatte sich bisher nicht bei ihr gemeldet. Es schien wirklich, dass er den Kuss bereits wieder vergessen hatte. Und obwohl sie darüber erleichtert war, enttäuschte es sie auch.
Und Pavel? Der hatte überhaupt erst angeordnet, dass sie nach Temeschburg verbannt wurde! Sie schnaubte. Pavel hatte sie wohl aus dem Weg haben wollen, sobald er gespürt hatte, dass die Verbindung zwischen ihr und Gábor so stark war, dass sie seinetwegen log. Und Gábor schien trotz aller widerstreitenden Gefühle erleichtert gewesen zu sein, dass sie fortging. Doch er würde sie zurückholen, daran musste sie glauben! Sie ballte die Fäuste. Er hatte es schließlich versprochen.
Golden schimmerte das Laub am Tag nach Erntedank, als sich Veronika aus der Temeschburger Festung stahl. Heute würde ihre Abwesenheit niemandem auffallen, und sie wollte die Gelegenheit, den grauen Mauern auch einmal tagsüber zu entkommen, nicht ungenutzt verstreichen lassen. Sie hatte ein einfaches Gewand aus grauem Wollstoff angelegt und ihre Haare unter einer weißen Haube verborgen. Ihre Füße schützten schwere Lederschuhe mit Holzsohlen, die auf den zu dieser Zeit häufig schlammigen Wegen unverzichtbar waren. Eine der Mägde hatte ihr einen Korb geliehen.
Der Herbst war die Zeit der Abgaben an die Landherren, und die Gräfin und ihre Bediensteten arbeiteten in fiebriger Betriebsamkeit. Die kostbaren Gaben der Bauern mussten an den wenigen Sonnentagen eingefahren, gezählt und gelagert werden. Ein großer Teil des Getreides wurde sofort in bare Münze getauscht, um Geld für neue Waffen und Männer zu erhalten. Deshalb tummelten sich in der Burg Händler, Bauern und Söldner zugleich, und Veronika war froh, dem Gewimmel entfliehen zu können.
Sie eilte mit gesenktem Haupt an den Burgwachen vorbei und hinaus ins Freie. In ihrer einfachen Kleidung fiel sie unter den vielen Menschen nicht weiter auf und niemand erkannte sie. Für eine Dame von Adel gehörte es sich nicht, alleine herumzuwandern. Doch sie war nicht wie die anderen, und sie hatte längst kein schlechtes Gewissen mehr dabei, solche Regeln zu ignorieren. Draußen atmete sie tief ein, und es war, als ob das Leben endlich wieder in sie zurückströmte.
Mit flottem Schritt wich sie Bauernkarren aus und schlug einen weniger befahrenen Weg ein, der hinunter ins Tal und zum Wald führte. Pilze wollte sie dort sammeln, von denen sie bei ihrem letzten Ausflug als Wölfin mehrere Grüppchen entdeckt hatte.
Sie wollte diesen Ausflug dazu nutzen, ihre Gedanken zu klären, doch das war gar nicht so einfach. Zwei Wochen waren inzwischen vergangen, seit sie erfahren hatten, dass Belgrad zurück an den ungarischen König gehen sollte, und die nächste Hiobsbotschaft ließ auch nicht lange auf sich warten. Der König wollte in Begleitung Ulrich Cillis selbst nach Belgrad reisen, um die Festung wieder in Besitz zu nehmen, und zwar mit einem Heer von mehr als zweitausend Männern. Gerüchten zufolge plante er, Laszlo Hunyadi gefangen zu nehmen oder gar zu töten. Deshalb wollte die Gräfin einen eigenen Tross bewaffneter Männer nach Belgrad schicken, um Laszlo zu unterstützen. Dazu brauchte sie jede einzelne Münze, die ihr die Herbstabgaben einbrachten.
Allerdings würde es den Hunyadis kein Bürger und kein Edelmann verzeihen, wenn sie ihre Waffen gegen den König erhoben, selbst wenn es in Notwehr war. Eine einzige falsche Bewegung konnte genügen, um sie in den Abgrund zu stürzen. Veronika fürchtete um Miklos und Gábor. Sie waren ebenfalls in Gefahr, denn sie würden ohne Zögern ihr Leben riskieren, um Graf Hunyadis Söhne zu schützen.
Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Sie hatte die sorgenvollen Grübeleien doch in der Burg zurücklassen wollen.
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