Mondherz
die Mondgöttin vom Himmel auf die Erde herabschaute, und während der kurzen Stunden des Tages vermochte er nicht, genug Wild zu fangen, um seinen Bluthunger zu stillen. So darbte er und starb bald, hungrig und voller Groll, und ich sage euch, es war eine gerechte Strafe.« Die Stimme der Phuri Dai klang dabei streng und endgültig. »Chandra jedoch weinte, während der Mond wuchs, und im nächsten Vollmond gebar sie ein Kind. Es war ein Knabe, bleich wie sie, doch mit den kräftigen Armen seines Vaters. Sie nannte ihn Mulo. Mulo war gezeugt unter dem Einfluss des unschuldig vergossenen Wolfsbluts, und der Wolf hatte ihm mit dem Lebenssaft auch einen Teil seiner Seele gegeben. Deshalb war er nun halb Mensch und halb Wolf, und traurig übergab ihn seine Mutter der Obhut des Waldes, ohne ihm seine Herkunft zu offenbaren. Denn nur Götter können auf dem Mond leben, das wissen wir alle, und Mulo gehörte hierher, zu den Tieren und den Menschen, die beide seine Brüder waren. Er war der Erste deines Stammes, Wolfsfrau.« Jäh wandte sich die Phuri Dai an das Mädchen, und obwohl Veronika wusste, dass die verschleierten Augen der Alten nichts wahrnehmen konnten, kam es ihr so vor, als ob sich ihre Blicke trafen. »Dies ist die Geschichte, wie sich die beiden Blutlinien in Mulo vereinigten«, schloss die Alte ihre Erzählung. »Stets, wenn er jagen ging, weil das Blut seines Vaters und seine Wolfsseele ihn dazu trieben, erfüllte ihn der Anblick des Mondes mit einer Sehnsucht, die er nicht erklären konnte. Es war seine Mutter, die zu ihm heruntersah, und heute noch spricht sie zu seinen Nachfahren.«
Nun waren alle Blicke auf Veronika gerichtet, und sie sann über die Worte nach, ehe sie nickte. »So ist es«, bekräftigte sie. »Der Mond hat eine besondere Bedeutung für uns. Jede Nacht spüren wir seine Kraft.«
»Trinken wir auf den Mond«, rief Solana aus und hob ihren Becher. »Dass sein Licht die Wolfsfrau schützen und unsere Schritte in der Nacht sicher führen möge!«
Die anderen Roma stimmten in den Trinkspruch mit ein, und auch Veronika hob den Becher, doch ihre Gedanken schwirrten weiterhin um die Erzählung.
Senando, Solanas Mann, ergriff eine Geige, die hinter ihm im Gras lag, und fiedelte eine fröhliche Melodie. Im Nu tauchten weitere Instrumente auf und wurden an ihre Spieler weitergereicht.
»Höre und staune!«, meinte Solana zu ihrer neuen Freundin, und ihre Augen leuchteten.
Die Musik brach wie ein Frühlingsgewitter über Veronika herein, und sie lauschte überwältigt. Es waren fremde Melodien, rhythmisch und fröhlich wie ein leichter Wind, der sich in die Lüfte erhob und durch die Laubwälder rauschte. Sie sah die Töne beinahe durch die Luft tanzen, und unwillkürlich zuckten ihre Finger im Takt dazu. Dann war es, als zögen Wolken auf, eine jähe Melancholie, als sich Paulos Flöte einsam über den Trommeln erhob, um in langgezogenen, schrillen Tönen zu klagen. Gleich verschwand sie jedoch wieder hinter dem Stakkato einer Geige, Senandos Geige, deren Klang Veronika durchfuhr wie ein erfrischender Regenguss.
»Unsere Musik klingt für dich so fremd wie unsere Geschichten, nicht wahr?«, flüsterte die Stimme der Phuri Dai. Die alte Frau neigte ihr blindes Gesicht in ihre Richtung.
»Glaubt Ihr tatsächlich, dass die Erzählung über Mulo wahr ist?«, fragte Veronika.
Solanas Großmutter lächelte. »Ich glaube nicht, dass es wichtig ist. Wichtig ist nur, dass wir Menschen nach Erklärungen für das Unbegreifliche suchen.«
»Und die Göttinnen?« Veronika stockte. Sie wusste nicht, wie sie die Frage formulieren sollte, ohne die Phuri Dai zu kränken. Doch die Romafrau verstand sie auch so.
Sie wiegte den Kopf. »Wir Roma haben eine unbeständige Geschichte, denn von weither sind wir gekommen und wandern seitdem durch die Welt. Auch unser Glaube ist mitgewandert, und vieles, was wir sehen und hören, hat ihn geprägt. Gibt es viele Götter? Oder Göttinnen? Oder nur einen, der über alles herrscht? Wer das sagen kann, muss sehr weise sein.« Ihre verschleierten Augen schienen klarer zu werden, schienen im Licht des Feuers zu funkeln. Zwei Frauen erhoben sich, um zu tanzen, und ihre Körper warfen zuckende Schatten über die Lagerstätten.
Veronika nickte, und sie staunte selbst über sich, als sie sagte: »Vielleicht stehen eure Göttinnen für verschiedene Seiten des einen Gottes, an den die Christenheit glaubt.«
Die Phuri Dai lächelte und sah plötzlich nicht mehr alt und
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