Mondherz
Männer auf ihren Sitzplätzen nach vorne rückten, um respektvoll zu horchen.
»Ich möchte von Mulo berichten, dem Vater der Gestaltwandler«, begann Solanas Großmutter, und auch wenn ihre vom Alter brüchige Stimme zitterte, so schwang plötzlich eine Musikalität und Kraft darin, die von einer langjährigen Meisterschaft als Erzählerin zeugte. Veronika lauschte gebannt.
»Einst gab es einen Jäger. So groß und stark wie unser Senando war er, doch längst nicht so friedlich. Die Tiere fürchteten ihn so sehr, dass sie sich versteckten, sobald nur sein Schatten in die Nähe des Waldes fiel. Jeden Abend kehrte er mit dem erbeuteten Wild in seine Hütte zurück, wo er einsam hauste und von nichts anderem lebte als von rohem Fleisch. Er kleidete sich in die Felle der toten Tiere wie ein Barbar, und dieses Äußere war der genaue Spiegel seiner Seele. Doch es geschah nun, dass sich eines Nachts die Mondgöttin Chandra in gerade jenen Wald begab. Ihr müsst wissen, in den Neumondnächten, wenn der Himmel so schwarz ist wie ein Stück Kohle, kann sie herabsteigen, um unter den sterblichen Wesen zu wandeln. Ihre Haut ist bleich wie der Mond selbst, und der Schleier ihres schweren, nachtschwarzen Haares kleidet ihren Körper wie eine Königin. Wunderschön ist sie anzusehen, und ihre Augen strahlen wie zwei Sterne.« Die Phuri Dai holte Atem. Ihre blinden Augen schienen in die Ferne zu blicken, als merke sie gar nicht, dass ihre Zuhörer gebannt an ihren Lippen hingen. Veronika wurde bewusst, dass die alte Frau wohl meist in ihrer eigenen Sprache erzählte, doch ihrem Gast zu Ehren in Ungarisch sprach. Verlegen nippte sie an ihrem Honigwein.
»Im Wald traf die Mondgöttin auf die Tiere, und diese klagten ihr Leid«, fuhr die Phuri Dai fort. »Voll Mitleid hörte Chandra sie an, und ihre Sternenaugen füllten sich mit Tränen, als sie sah, wie der Blutdurst des Jägers unter den Tieren gewütet hatte. Sie beschloss, ihn zur Rede zu stellen. Leuchtende Fußspuren hinterließ sie, als sie barfuß zwischen den Bäumen hindurch zu seiner Hütte ging. Der Jäger sah sie jedoch von weitem und erkannte sie. Ihre Schönheit weckte ihn ihm sogleich Begehren. Er war nicht nur stark wie ein Bär, sondern auch so verschlagen wie ein Fuchs, und so ersann er eine List, um sie zu seiner Frau zu nehmen. ›Welch edler Besuch‹, rief er aus und hieß sie so herzlich willkommen, dass ihr zorniger Argwohn nachließ. Denn sie ist die sanfteste und gutgläubigste der Göttinnen, müsst ihr wissen, weder so rachsüchtig wie die schwarze Kriegerkönigin Kali noch so klaräugig wie Saraswati, die Göttin der Weisheit. So folgte Chandra dem Jäger in sein Heim, wo er bereits ein Mahl für sie vorbereitet hatte. ›Das kostbare Herz einer Artischocke habe ich zu deinen Ehren gepflückt‹, sagte er und reichte es ihr auf einem silbernen Teller. Neugierig kostete sie die Frucht, denn sie wusste es nicht besser. Doch habt acht, es war eine Lüge, die der Jäger ihr auftischte, in Wirklichkeit gab er ihr das Herz eines Wolfes zu essen.«
Ein Stöhnen ging durch die Reihen der Kinder, und manches von ihnen musterte Veronika verstohlen, um zu sehen, was sie wohl von diesem Frevel halten mochte. Auch sie verzog angewidert das Gesicht.
»Das Blut des unschuldig gestorbenen Wolfs war voll finsterer Magie, geboren aus der Grausamkeit des Jägers und der Angst seines Opfers. Chandras Blick trübte sich unter seinem Einfluss, so dass sie die wahre Natur des Jägers nicht mehr erkennen konnte. Getrieben von den dunklen Säften der Erde, die ihr Mondherz betäubten, verfiel sie seinem Lächeln und seiner kräftigen Gestalt. So gab sie sich ihm in dieser Nacht hin, und ohne jede Reue nahm der Jäger ihren göttlichen Leib in Besitz.«
Veronika erschauerte. Fast vermeinte sie die verschlungenen Körper des Jägers und der Göttin vor sich zu sehen und die dunklen Mächte zu spüren, die sie zu dieser unheiligen Vereinigung trieben. Schnell senkte sie den Kopf, während die Verlegenheit Röte auf ihre Wangen trieb. Oder war es doch nur der Honigwein, der ihr Herz rasen ließ?
»Erst als der Mond seine Göttin im Morgengrauen rief, erwachte sie aus dem Rausch des Wolfsbluts«, erzählte Solanas Großmutter weiter. »Entsetzt entdeckte sie den Verrat, den der Jäger an ihr geübt hatte, und sie verfluchte ihn. Von nun an sollte er Schmerzen leiden, wann immer das Licht des Mondes auf ihn fiel. Und so kam es. Nie mehr konnte er seine Hütte verlassen, wenn
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