Mondherz
Blicke gespürt. Er war wirklich ein Riese, seine Hände groß wie Holzteller, doch sein Gesicht trug ebenmäßige, sanfte Züge. »Wer ist das Oberhaupt eurer Familie?«
Solana sah sie erstaunt an, dann schlug sie sich plötzlich lachend auf die Schenkel. Ihre Zähne blitzten im Schein des Feuers. Die anderen grinsten zu ihnen herüber, und die Kinder kreischten, von Solanas Lachen angesteckt. Senando griff nach Solanas Hand und lachte ebenfalls, tief und grollend. Mit einem Seufzen erwachte auch die Großmutter, tastete um sich und ergriff Veronikas Arm. Ihre Finger fühlten sich auf Veronikas Haut an wie trockenes Pergament.
»Willkommen zum
Pativ,
Wolfsfrau«, sagte sie mit ihrer heiseren, vom Alter zermürbten Stimme, und die anderen wurden ehrerbietig still. »Solana, was hat sie gesagt?«
Solanas Gekicher wich einem Lächeln. »Veronika fragte mich, wer das Oberhaupt unserer Familie ist und schielte dabei zu Senando hinüber, und ich merkte, wie wenig sie über uns weiß.«
»Und du möchtest sie weiterhin in dieser Unwissenheit halten?«
»Natürlich nicht.« Stolz richtete sich Solana auf. »Mein Vater ist der
Baro Rom
«, erklärte sie Veronika, »der Älteste, wie wir unser Familienoberhaupt nennen. Doch er reist nicht mit uns, sondern verweilt in der Walachei, wo sich in diesem Herbst die große Versammlung der Roma trifft.« Leise ließ Senando sich neben ihr nieder, und sie tätschelte ihm liebevoll den Arm. »Diese Art von Politik ist Sache der Männer, uns Frauen hat sie nie interessiert. Wenn du jedoch wissen möchtest, wessen Rat in diesem Lager am wichtigsten ist, dann ist das der meiner Großmutter. Sie ist die Phuri Dai, die weise Frau, und sogar der Baro Rom, ihr Sohn, beugt sich ihren Worten.«
»Wenn ihn sein Sturkopf nicht in andere Richtungen treibt«, ergänzte die Phuri Dai mit einem zahnlosen Schmunzeln. »Meine Enkelin wird mir einmal nachfolgen, wenn ich nicht mehr bin. Gemeinsam sorgen wir nun für die Alten, die Kinder und die beiden Musiker, halten die Sippe zusammen und dienen den Wölfen, während mein Sohn mit dem restlichen Mannsvolk zur Versammlung gereist ist.« Ihr Lächeln verschwand. »Über Krieg reden sie dort, über die Schreckensherrschaft des neuen walachischen Grafen Vlad Drăculea und seinen Hass auf unser Volk.« Sie blinzelte. »Doch dies soll dich nicht kümmern, Wolfsfrau, du bist unser Gast.«
»Und sicher wird sie nicht allein von Worten satt«, rief eine der Frauen vorwitzig. »Lasst uns das Fleisch anschneiden, bevor es schwarz wird!«
Beistimmender Jubel erklang, und viele sprangen auf, um Veronika persönlich von den Leckerbissen zu bringen, die sie zubereitet hatten. Warmes Weizenbrot, ein weicher Käse, dessen sanftes Aroma der Nase schmeichelte, ölgetränkte Gemüsefladen, Zwiebelringe, gebratene Pilze und pochierte Wachteleier, Veronika staunte über die Vielfalt, die sie sonst nur von Festmählern des Adels kannte. Sie aß auch vom Zicklein, das stundenlang am Spieß über dem Feuer geschmort hatte. Das Fleisch war von heller Farbe und zerging so zart wie Butter auf der Zunge, gewürzt mit herben Kräutern, von denen sie meinte, sie heute das erste Mal zu schmecken.
Erst als sie alles einmal gekostet hatte, griffen auch die Roma zu und speisten fröhlich und laut. Dazu tranken sie Honigwein, ein schweres, süßes Getränk, das Veronika bald zu Kopf stieg. Irgendwann lehnte sie sich zurück, so gesättigt, dass sie glaubte, nie wieder etwas essen zu können. Selbst ihre Wölfin schien ihren Hunger zur Gänze gestillt zu haben, was nicht oft geschah, wenn sie nicht selbst gejagt hatte. Sie konnte kaum glauben, dass sie sich in der Gesellschaft von Menschen, die um ihre wahre Natur wussten, so wohl fühlte.
»Und was möchtest du nun?« Solana klatschte in die Hände und riss sie damit aus ihren Gedanken. »Musik oder eine Geschichte?«
»Musik«, riefen die einen ihr zu, »wünsch dir Musik!«
»Eine Geschichte, eine Geschichte«, skandierten die anderen.
Veronika wandte unentschlossen den Kopf hierhin und dorthin. »Die Geschichte«, entschied sie schließlich lachend. »Ich nehme die Geschichte.«
»Eine gute Wahl!« Solanas Augen glänzten, als sie sich an die Phuri Dai wandte. »Möchtest du uns eine erzählen, Großmutter?«
Die Phuri Dai nickte bedächtig und räusperte sich, als sie sich in ihren Kissen aufrichtete. Sofort verstummten die Rufe, und alle Blicke hingen gebannt an ihr. Veronika staunte, als sie sah, dass auch die
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