Mondherz
helfen. Dieser Gedanke hob ihre Laune beträchtlich.
Irgendwann hörte es auf zu regnen, und schließlich brach sogar die Sonne durch die Wolken. Ihr Stand zeigte an, dass es fast Mittag war. An einer Weggabelung am Waldrand hielten sie an. Froh über die Rast ließ Veronika sich auf dem weichen Moosboden nieder. Dann sah sie, dass Paulo keine Anstalten machte, sich zu setzen. Er ging einige Schritte in den Wald hinein, bückte sich ins Unterholz, wo sich das Laub des letzten Jahres häufte. Zu ihrem Erstaunen begann er darin zu wühlen.
»Was machst du da?«, rief sie.
Er hielt inne, die Schultern angezogen. Dann ließ er sie fallen, als hätte er eine Entscheidung getroffen. »Komm her«, sagte er.
Sofort war sie an seiner Seite. Unter dem Laub war ein großer, flacher Stein, den er zur Seite wuchtete. In der Kuhle darunter lag ein verfilztes Bündel. Er wischte den Schmutz beiseite, löste die Schnur und rollte das Tuch auf. Ein Dutzend breiter Hölzer kamen zum Vorschein, alle etwa eine Elle lang und mit seltsamen Schnitzereien bedeckt.
»Was ist das?«, fragte sie staunend.
Paulo nahm einen der Stecken heraus. »Solana«, sagte er und deutete auf eine ovale Kerbe im Holz. »Siehst du, Zeichen für Frau.« Sein Finger fuhr einen dünnen Strich nach, der vom Oval zu einem Dreieck führte. »Tochter von Baro Rom. War hier mit«, er drehte den Stecken und zählte die Striche und Punkte. »Acht Frauen, neun Kindern, zwei Männern. Im zehnten Mond letztes Jahr.« Er deutete auf eine gekrümmte Linie, einen Fluss, dahinter der Schemen einer Burg und ein Kirchturm. »Hat Senando geschnitzt«, sagte er. »Guter Schnitzer. Das ist Buda, ihr Ziel.«
Veronika betrachtete das Holz in seinen Händen, dann die anderen, die in dem Bündel auf seinem Schoß lagen. »Sind das Nachrichten von anderen Romafamilien?«, fragte sie.
Paulo schüttelte den Kopf. »Nur von unserer Familie. Siehst du, das ist vom Baro Rom«, er deutete auf einen weiteren Stecken. »Liegt schon ein Jahr hier. Und das ist von meinem Bruder Marko. Er reitet im Winter für Viktor nach Buda. Sagt, dass ich arm dran, weil ich in Burg wohnen muss.« Er grinste und strich über die Schnitzzeichen in dem Holz.
»Was ist das für eine Schrift?«, fragte Veronika.
»Devanagari«,
antwortete er. »Alte Zeichen. Wir lernen schon als Kind.«
»Und so gelangen Eure Nachrichten durch das Land«, rief Veronika ehrfürchtig. Sie musste an die Geheimschrift der Wölfe denken, die ganz anders war, aber den gleichen Zweck erfüllte. »So könnt ihr miteinander reden, obwohl ihr immer unterwegs seid.«
Paulo nickte. Er klemmte sich das Bündel unter den Arm und erhob sich. »Ich schnitze eine Nachricht für Viktor«, sagte er. »Aber jetzt, wir müssen essen.«
Sie teilten sich das Brot, das Paulo eingepackt hatte. Veronika hatte zu ihrer Verlegenheit nicht daran gedacht. Das Einzige, was sie bei sich trug, war ein Beutel mit Gulden, den ihr Gábor bei ihrer Abreise nach Temeschburg zugesteckt hatte. Sie hoffte, dass das Geld reichen würde, um sie beide mit Nahrung und Unterkunft zu versorgen. In allem anderen musste sie sich auf Paulos Kenntnisse verlassen. Sie musterte sein dunkles Gesicht, die langen, wirren Haare, die ihm über den Rücken fielen. Er beugte sich konzentriert über seine Schnitzarbeit. Obwohl er einen unauffälligen braunen Filzmantel trug, atmete jede seiner Bewegungen eine Fremdartigkeit, welche die Leute stutzig machen würde. Als spürte er ihre kritischen Überlegungen, erwiderte er ihren Blick mit verkniffener Miene. Ertappt senkte sie den Kopf.
»Zehn Tage«, sagte er jäh. »Keine Herbergen. Wir übernachten im Wald oder bei Bauern. Du meine Ehefrau, ja?«
Sie nickte. »Und was machen wir in Buda?«
»Wir sehen, wenn wir dort sind.« Er wandte den Blick von ihr ab. Vorsichtig wickelte er die Hölzer wieder in das Bündel und legte es in sein Versteck zurück. Er hatte Veronika seine Schnitzereien nicht gezeigt. Sie wusste auch so, was er geschrieben hatte. Hunyadis Männer gefangen. Zwei Leute auf dem Weg nach Buda. Was wohl das Schriftzeichen für Wolfsfrau war?
Paulo kam zurück. »Kurze Ruhe für Pferde«, sagte er. »Bis Sonne dort.« Er zeigte auf eine Stelle, bis zu der die Sonne noch zwei Handbreit wandern musste, dann legte er sich von Veronika abgewandt auf den Boden. Innerhalb weniger Atemzüge war er eingeschlafen. Still breitete sie ihre Satteldecke neben ihm aus und legte sich darauf. Doch zu viele Gedanken trieben sie
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