Mondherz
um. Ihr Blick verfing sich im dichten Astgewirr über ihr. Wie Knochenfinger sahen die Zweige aus, die sich im Wind neigten und nach ihr zu greifen schienen. Sie erschauerte. Wahrscheinlich hatte die Gräfin inzwischen Männer ausgeschickt, um sie wieder einzufangen. Sie zog ihren Mantel enger um sich. Sie bereute ihre Flucht nicht. In Temeschburg gab es nichts, was sie hätte halten können, und sie würde alles dafür tun, um niemals dorthin zurückkehren zu müssen.
Buda, Februar 1457
»Béla«, sagte Gábor leise. »Béla.«
Mit zusammengekniffenen Augenbrauen fuhr der Wärter zu ihm herum. »Was willst du?«, schnauzte er. »Und woher weißt du überhaupt, wie ich heiße?«
»Ich weiß so einiges«, sagte Gábor. Er starrte dem Wärter durch die Luke hindurch geradewegs in die Augen. »Zum Beispiel, dass ich dich töten werde, sobald ich hier raus bin.«
»Pah!« Der Wärter grinste. »Du bist doch irre. Keiner von euch kommt hier raus.«
Gábor zuckte mit den Schultern. »Hunyadi hat immer noch Freunde dort draußen. Und ich habe Geld. Schon allein deshalb werden sie mich hier rausholen.«
»Halt dein Maul, Türkenbastard!«, rief der Wärter. »Ich lass mich nicht von dir bestechen.« Er drehte sich weg.
»Das weiß ich. Du bist wie all die anderen braven Ungarn, hab ich recht?« Gábor stieß die Worte verächtlich hervor. »Erst sind sie zu stolz, um gute Gelegenheiten zu ergreifen, dann ziehen sie für drei Gulden in den Krieg, und schließlich sind sie zu dumm, um länger als ein Frühjahr gegen die Türken zu überleben. So viele kurze, erbärmliche Leben.« Er kicherte. »Deshalb kommst du mir auch so bekannt vor. Viele wie du sind mir untergekommen, dort an der Grenze zum Türkenland. Einer war dir sogar wie aus dem Gesicht geschnitten.«
»Er sah aus wie ich?« Der Wärter fuhr herum. »Wie meinst du das?«
»So wie ich’s sage«, meinte Gábor. »Ich war nicht immer in Hunyadis Diensten.« Mit diesen Worten ließ er den Wärter stehen und legte sich auf seine Pritsche.
Béla stellte sich vor die Luke und stierte in die Dunkelheit der Zelle hinein. Gábor empfand dumpfe Befriedigung beim Anblick seines beunruhigten Gesichts. Schließlich wandte sich der Wärter ab.
»Für die Türkenschwuchtel und ihr Schätzchen gibt’s heute kein Essen und kein Trinken«, polterte er. »Dann werden ihm die Sprüche schnell vergehen.«
Gábor seufzte. Das hatte er befürchtet. Doch der erste Schritt war getan.
In der Puszta, Februar 1457
Endlos waren die Tage, in denen Paulo und Veronika nur Rast machten, wenn die Pferde fast unter ihnen zusammenbrachen. Ihnen begegneten Bauern und Handwerker, die wie alle armen Leute stets zu Fuß waren. Selten kamen ihnen Reiter entgegen, meist Waffenknechte der örtlichen Adligen, die sie misstrauisch beäugten, aber keine Fragen stellten oder sie gar anhielten.
Nur vier Mal sahen sie die Ochsengespanne von Händlern. Diese Zeit des Jahres, bevor das Frühjahr so recht anbrach, war die Zeit der Wagemutigen. Einem Kaufmann winkten die größten Gewinne, wenn er vor seinen Konkurrenten aufbrach und als Erster in jene entlegenen Gegenden kam, wo er nach den langen Wintern bereits sehnsüchtig erwartet wurde. Allerdings waren die Wege um diese Zeit noch risikoreich und schwer passierbar.
Nachtfrost und Hochwasser, damit hatten auch Veronika und Paulo zu kämpfen. An manchen Stellen war der Boden gefroren, und es wuchs so wenig Gras, dass die Pferde kaum Nahrung fanden. Wenn die Sonne dann zeitweilig die Wege auftaute, hatten die armen Tiere ebenfalls zu kämpfen, denn dann mussten sie fesseltief durch kalten Morast waten.
Nach drei Tagen erreichten sie den Fluss Maros, dessen träger Strom von nun an die Handelsstraße begleitete. An manchen Stellen war er so weit über die Ufer getreten, dass er den Weg überschwemmte. Dann mussten sie weite Umwege reiten, denn ihre Pferde in das trübe Nass zu treiben, barg die Gefahr, dass sie stolperten und sich die empfindlichen Fesseln brachen. Immer öfter stießen sie nun auch auf Dörfer, an Wegkreuzungen oder in den Flussauen. Sie rasteten jedoch nie in Gesellschaft und redeten nur mit den Einheimischen, um Nahrung für sich und teures Winterheu für die Pferde zu erstehen.
Obwohl sogar Veronika trotz ihrer Wolfsnatur meist fror, schliefen sie draußen. Aus ihren Satteldecken baute Paulo ein notdürftiges Zeltdach, unter dem sie sich in ihre Mäntel wickelten. Manchmal versuchte Veronika, seine Verschlossenheit zu
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