Mondherz
Gábor erstarrte. Seine feinen Ohren vernahmen das Gemurmel der Wärter, als stünde er neben ihnen.
»Béla, warte. Gehst du nicht zu hart mit diesem Graf von Livedil um?«, fragte einer der Wärter leise. »Er ist ein halber Türke, aber er scheint Einfluss zu haben. Wenn ihn der König begnadigt, hast du einen gefährlichen Feind.«
»Ach was, begnadigen.« Der Wärter namens Béla schnaubte. »Der König wird sie alle in ihren Zellen verrotten lassen. Der Türke hat’s nicht besser verdient. Mein Bruder ist vor drei Sommern unten an der Grenze gestorben. Abgestochen haben sie ihn, die Schweine, und dann haben sie seine Leiche geschändet und verbrannt.«
Danach wurden ihre Stimmen zu undeutlich, um noch etwas zu verstehen. Gábor ließ sich in der nachtschwarzen Zelle auf der Pritsche nieder. Der Raum war so klein, dass er kein Licht brauchte, um sich zu orientieren. Miklos schwieg, wahrscheinlich genauso geschockt von den Ereignissen wie er selbst.
Laszlo war tot. Er hatte ihn nicht schützen können. Und bald würde es seinen Getreuen ebenso gehen. Für einen Moment verlor Gábor jeden Mut. Er wünschte sich nur, er könnte Veronika noch einmal sehen. Ihr zögerndes Lächeln, ihre Finger, die über die zerzausten blonden Locken strichen, der geschwungene Bogen ihrer Wimpern, wenn sie Gábors Lippen während des Unterrichts beobachtet hatte, um keines seiner Worte zu versäumen. Es waren nur wenige, kostbare Wochen gewesen, und er wünschte sich nichts mehr als in diese Zeit zurück, in der er ihr so nahe hatte sein können.
Er ballte die Fäuste. Er musste sich zusammenreißen. Es gab immer einen Ausweg. Er schloss die Augen.
Türkenbastard,
ging es ihm durch den Kopf. Béla, der Türkenhasser. Sein toter Bruder. Wie konnte er sich das zunutze machen? Allmählich begann sich ein Plan in seinem Kopf zu formen.
In der Puszta, Februar 1457
Als der Morgen graute, klammerte sich Veronika an die Mähne ihres Pferdes. Das Tier trabte mit gesenktem Kopf gegen den Regen an, ihre Oberschenkel schmerzten inzwischen bei jedem seiner Schritte, und ihr war so kalt, dass sie dachte, sie müsste erfrieren. Paulo, der vor ihr ritt, schien nicht weniger erschöpft und durchfroren.
Vor ihnen zog sich der Handelsweg zwischen Temeschburg und Buda wie ein endloses Band durch die Ebene aus Weideland und Sumpf.
Puszta
nannten die Schafhirten sie, Einöde. Unwillkürlich suchten ihre Augen nach einem Hügel, irgendeiner Erhebung, welche die trostlose Monotonie unterbrach. Vergebens. Nur weit vor sich sah sie einen grauen Streifen am Horizont, einen Wald, der in der trüben Dämmerung mit dem Himmel verschwamm.
Sie wischte sich den eiskalten Regen aus dem Gesicht. Ihre Finger zitterten, und sie war so erschöpft, dass sie sich kaum im Sattel halten konnte. Ihr Mantel war durchweicht und haftete klamm an ihrem Rücken. Es war der Mantel einer Magd, aus einfachem Filz und mehrfach geflickt. Sie hatte ihn einer Bediensteten gestohlen, um auf der Reise nicht aufzufallen, genauso wie ein abgetragenes Kleid, das ihr an den Schultern zu weit war. Die Magd würde weinen, wenn sie den Verlust bemerkte. Veronika biss sich auf die Lippen. Von ihren eigenen Kleidern hatte sie nur einen wollenen Unterrock mitgenommen. Sie hatte ihn vorne und hinten aufgeschlitzt, damit er beim Reiten ihre Beine schützte. Inzwischen war er nur noch ein Fetzen und roch nach nassem Pferd.
Warum war sie nur auf die dumme Idee gekommen, dass sie in Buda etwas bewirken könnte? Sie starrte auf Paulos Rücken, auf sein schwarzes Haar, das wie ein nasser Helm an seinem Kopf klebte. Kein einziges Mal hatte er sich in der letzten Stunde nach ihr umgesehen.
Gestern Nachmittag hatte sie ihn auf der Koppel aufgesucht und mit der Bitte überfallen, sie nach Buda zu bringen. Er hatte zu ihrem Erstaunen kaum gezögert. Abends hatte er zwei Pferde von der Koppel in den Wald geführt und dort versteckt. In dem Tumult auf der Burg war das Fehlen der Tiere niemandem aufgefallen. In der Nacht waren sie dann geflohen. Veronika hatte ihn bei ihrem Aufbruch gefragt, was er überhaupt über ihr Vorhaben dachte.
Er hatte nur mit den Schultern gezuckt. »Du tust, was du für richtig hältst. Ich helfe«, war seine knappe, in singendem Akzent formulierte Antwort gewesen.
Allmählich kam ihr der Verdacht, dass ihm ihr Ausflug gar nicht so ungelegen kam. Hatte Solana im Herbst nicht gesagt, ihre Sippe würde nach Buda ziehen? Vielleicht waren die Roma noch dort und konnten ihr
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