Mondherz
Bewegungen täuschten sie keinen Augenblick über die Kraft hinweg, die sich in ihnen verbarg. Sie spürte seine Stärke körperlich wie einen Eissturm, spürte, wie ihre Wölfin den Kopf einzog und sie zwingen wollte, sich vor ihm zu verbeugen. Wenn es nach ihr ging, würde sie dem Ältesten wohl nur auf diese unterwürfige Weise begegnen.
Widersprich ihm nicht, er ist der Leitwolf.
Es kostete Veronika alle Kraft, sich gegen ihre Wölfin durchzusetzen. Er sollte sie von der Prophezeiung freisprechen, und das würde er nicht tun, wenn sie Schwäche zeigte. Obwohl ihr der Schweiß über den Rücken rann, hielt sie Viktors Blick stand.
Irgendwann schüttelte er den Kopf. »Du bist zu aufgewühlt«, sagte er, und sein Tonfall war weder anklagend noch böse. »Du wirst klarer sehen, wenn du deine Vergangenheit hinter dir lässt.«
Ihre Vergangenheit? Wut stieg in ihr auf und vertrieb alle Angst. Fast hätte sie gelacht. Hatte sie nicht bereits alles hinter sich gelassen? Ihre Familie? Ihre Menschlichkeit? Ihr Rudel? »Ich sehe bereits klar«, zischte sie. »Ihr werdet mich niemals überzeugen.«
Er sah sie weiter an, dann blinzelte er, und sie vermeinte in seinen blauen Augen zu lesen, dass er amüsiert war. Er nahm sie nicht ernst! Wütend war sie davongestapft, bis sie ein kleines Plateau erreichte. Dort überlegte sie, was sie jetzt tun sollte.
Als Viktor einige Zeit später zu ihr kam, hatte sie noch keine Antwort gefunden. Ohne viele Worte bot er ihr eine eigene kleine Höhlenkammer an, in der sie wohnen sollte, und da sie nicht wusste, wo sie sonst hingehen sollte, fügte sie sich seinem Wunsch. Am nächsten Morgen hatte sie neben ihrem Bettlager ein Bündel alter Dokumente vorgefunden. Viktor musste in der Nacht hereingeschlichen sein, so geräuschlos, dass sie nicht aufgewacht war. Dieser Gedanke hatte ihr ganz und gar nicht gefallen – und dabei war es nur der erste Beweis seiner unheimlichen Kräfte gewesen.
In den nächsten Wochen las sie sich durch die Schriften, beharrlich und voller Neugier. Pergamente aus Tierhaut fand sie darunter, die aus Zeiten stammten, in denen es noch kein Papier gab, vergilbte Schriften, bedeckt mit der Geheimschrift der Wölfe. Sie enthielten Mutmaßungen und Notizen späterer Werwölfe, die sich allesamt um die Prophezeiung drehten. Manches konnte sie kaum entziffern, und doch hatte sie sich hindurchgearbeitet, vieles mehrfach gelesen, begierig hoffend, auf etwas zu stoßen, das ihre Weigerung bekräftigte. Bisher hatte sie sich jedoch vergeblich bemüht.
Veronika seufzte und richtete sich auf. Ihre Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Die Kerze flackerte und tauchte die Felswände in einen gelblichen Schein. Quarzadern glitzerten darin wie Edelsteine. Draußen war tiefste Nacht, doch hier in den Höhlen gab es weder Sterne noch Sonne, und so waren es die Menschen, die mit ihren kargen Hilfsmitteln bestimmten, wann sie Licht oder Dunkelheit brauchten.
Sie gähnte, doch sie war sich sicher, dass sie heute Nacht keinen Schlaf mehr finden würde. Unschlüssig sah sie sich um, sah das Strohlager, die Truhe, in der ihre wenigen Habseligkeiten schlummerten, und den grob behauenen Tisch, an dem sie saß. Vorsichtig nahm sie die Kerze, die bis auf einen kleinen Stumpen heruntergebrannt war. Sie duckte sich und schritt hinaus in den niedrigen Gang, der ihren Höhlenraum mit den anderen verband. Obwohl sie sich tief im Fels befand, war die Luft trocken und angenehm. Nach zwei Biegungen spürte sie einen kühlen Windhauch und wenig später erreichte sie auch schon die Felsöffnung. Sie ließ die Kerze in einer Wandmulde zurück und kletterte durch das enge Loch hinaus.
Über ihr breitete sich der Sternenhimmel so jäh aus, dass ihr fast schwindlig wurde. Sie setzte sich auf einen Stein und sah nach oben, sog die Weite in sich ein, bis ihr Herz ein wenig leichter wurde.
Vor ihr fiel der Berg sachte ab. Heidekraut bedeckte die von Felsen durchlöcherte Wiese, dazwischen krümmten sich verkrüppelte Kiefern, die sich an den Hang drückten, als würden sie vor der Witterung Schutz suchen. Unten im Tal breitete sich der Wald schwarz und grau aus. Sachte wippten seine Wipfel im Wind. Felsen reckten sich wie die grobschlächtigen Köpfe riesiger Trolle zwischen den Nadelbäumen hervor. Erhaben und einsam wirkte die Landschaft, und nicht einmal das leise Gemurmel von Stimmen und die glimmende Feuerstelle, von der Veronika nur die in der Luft wirbelnden Funken sehen konnte,
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