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Mondherz

Mondherz

Titel: Mondherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Spies
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Kathedrale. Säulen aus Tropfsteinen glänzten, als wären sie aus Marmor. Majestätisch schwangen sie sich in die Höhe, bis sie hoch oben in den flackernden Schatten der Höhlendecke verschwanden. In fragilen Mustern überzogen Quarzadern die Wände, eingerahmt von den steinernen Pfeilern.
    Viktor saß regungslos auf seiner Bettstatt, einem Sack aus Stroh, der in dieser Kathedrale deplaziert wirkte. Sogar der Älteste in seiner einfachen Kutte erschien unscheinbar neben den riesigen Felswundern. Als er sich erhob, strafte er diesen Eindruck jedoch sofort Lügen. So sparsam seine Bewegungen waren, so selbstsicher wirkten sie. Wie ein König, der durch seinen Palast schritt, bewegte er sich auf Veronika zu. Seine Dominanz umhüllte sie wie ein kalter Mantel, unter dem das Atmen schwerfiel.
    Er trat so dicht vor sie, dass sie die Falten seines Gesichts mit dem Finger hätte nachzeichnen können. Sie rang nach Luft, kämpfte dagegen an, vor ihm zurückzuweichen. Seine blauen Augen prüften sie und schienen direkt bis auf den Grund ihrer Seele zu blicken.
    »Setz dich«, befahl er und trat einen Schritt zurück. Endlich konnte sie wieder freier atmen. Er zeigte zur Felswand, wo der Stein eine Bank formte. Davor stand ein einfacher Holztisch. Während Viktor zwei Tonbecher mit Wein füllte, ließ sie sich dort nieder.
    Seine Augen glommen im Fackellicht. Etwas stand darin, doch sie wusste nicht was. War es Spott? Unwillkürlich zog sie die Schultern ein. Seit sie hier war, wartete sie auf eine Zurechtweisung, da sie sich der Prophezeiung verweigerte. Warum hatte er sie sonst heute Nacht hergerufen? Doch stattdessen schien er sie zu studieren. Als sei sie ein seltsames Insekt, zu interessant, um es gehen zu lassen, und doch zu unbedeutend, um seine Beweggründe für relevant zu halten.
    »Du lernst viel«, sagte er plötzlich.
    Sie blinzelte. »Wie meint Ihr das?«
    »Du lernst, allein zu sein«, sagte er. »Das ist der erste Schritt.«
    »Manchmal fühle ich mich einsam«, gab sie zu. »Aber was soll ich dabei lernen?«
    Er schüttelte den Kopf. »Das ist nicht das Gleiche. Alleinsein kann es erst geben, wenn du aufgehört hast, einsam zu sein.«
    Hilflos hob sie die Schultern. Sie war sich nicht sicher, ob sie verstand, was er meinte. »Und was ist der zweite Schritt?«
    Er seufzte, als wäre sie schwer von Begriff. »Du wirst lernen, deine Gedanken von deinen Gefühlen zu trennen«, sagte er. »Das hilft dir, die richtigen Entscheidungen zu treffen.«
    »Ihr meint, meine Gefühle verschleiern mir den Verstand?«
    Er nickte.
    Sie senkte den Kopf und knetete den Wollstoff ihres Rocks. Sie wollte nicht schon wieder wütend werden. Natürlich sprach er von ihrer Weigerung, die Prophezeiung zu erfüllen. Er redete wie ein Philosoph, doch eigentlich ging es nur darum, sie von ihrem Irrtum zu überzeugen. Ihre Finger bohrten sich so fest in die bunte Wolle des Rocks, dass sie ein Loch hineinriss. Erschrocken legte sie ihre Hand darüber.
    »Ich möchte dir erzählen, wie ich hierherkam«, sagte Viktor als Nächstes. Er setzte sich ihr gegenüber. Überrascht starrte sie ihn an. Sein zerfurchtes Gesicht ließ jedoch keine Regung erkennen.
    »Ich lebte in einem einsamen Kloster am Ufer des Dnjestr, weit im Norden von hier. Eines Nachts fielen Tiere in unsere Mauern ein. Wilde Hunde, dachten wir erst, doch sie waren blutrünstiger und stärker als jedes natürliche Wesen, und ein Teufel in Menschengestalt führte sie an. Ich war der Jüngste unter den Mönchen, und zusammen mit der Bibel, die ich dem Abt aus der Klosterbibliothek bringen sollte, rettete dies wohl mein Leben. Während die Wölfe unter meinen Brüdern wüteten, zwang mich der Mann, ihn zu begleiten. Er brauchte jemanden, der lesen und schreiben konnte, und da ich ein Buch in der Hand hielt, wählte er mich aus. Er biss mich.« Viktor nahm einen Schluck von seinem Wein.
    Veronika nutzte die Pause, um einzuwerfen: »Aber der Wolfsbund verbietet es doch, Menschen anzufallen!«
    »Vom Wolfsbund hatte dieses Rudel aus verdorbenen Söldnern und Nomaden noch nie etwas gehört.« Viktor schnaubte. Seine Augen wurden dunkler. »Sie verschleppten mich in den Osten, wo sie sich mit Überfällen und gelegentlichen Aufträgen für einen mongolischen Khan durchschlugen. Ich hatte gerade gelernt, unter ihnen zu überleben, als Gott die nächste Prüfung für mich ersann. Eines Nachts verlieh er mir die Kräfte eines Ältesten. Ich wusste, der Rudelführer würde mich töten,

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