Mondherz
gemeinsam auf die Jagd gehen.
Gábor lehnte sich auf der Bank zurück. Schon lange war er nicht mehr in einer größeren Gruppe als Wolf gelaufen. Das Zusammenspiel ihrer Instinkte, das Einkreisen der Beute, das gemeinsame Fressen, auf all das freute er sich plötzlich. Die Menschen mochten streiten, doch für ihre Wölfe gab es nichts Erfüllenderes, als im Rudel zu jagen.
Miklos füllte auf Pavels Geheiß erneut die Bierkrüge, doch Gábor ließ seinen Becher stehen. Er wollte einen klaren Kopf bewahren. Für eine Weile schwiegen sie alle, nur der entfernte Schrei einer Eule klang durch die Stille.
»Ich habe gehört, dein Mündel ist inzwischen bei Viktor«, bemerkte Pavel schließlich. »Warum ist sie nicht nach Temeschburg zurückgekehrt?«
Gábor wechselte einen Blick mit Miklos. Sicher hatte die Gräfin Hunyadi ihrem Bruder Michael inzwischen von Veronikas eigenmächtiger Flucht erzählt, und so wusste bestimmt auch Pavel davon. Allerdings sollte er nicht noch mehr von ihren Eigenmächtigkeiten erfahren.
»Ich habe sie zu Viktor geschickt«, sagte er. »Er soll sie vom Sinn der Prophezeiung überzeugen.«
»Sie hat sich also widersetzt?« Michael grinste. »Das kleine Biest.«
Gábor verengte die Augen, und Miklos schnaufte empört auf. Pavel verzog missbilligend den Mund, allerdings richtete sich diese Regung nicht gegen Michael, wie seine nächsten Worte bewiesen. »Sie ist ein Weib. Weiber fragt man nicht nach ihrer Meinung, denn sie sind wankelmütig und nicht besonders gescheit.«
Gábor zuckte innerlich zusammen. Es schmerzte ihn, dass er Veronika nicht verteidigen konnte. Sicher war es das Beste für sie, wenn er nicht zeigte, wie nahe er ihr stand. Oder schützte er damit nur sich selbst?
»Genug davon.« Pavel wischte mit einer nachlässigen Handbewegung das Thema beiseite. Dann starrte er Gábor mit seinen Habichtaugen an. »Mathias hat dich also überzeugt?«
Gábor nickte, erleichtert über den Themenwechsel. »Er ist klug und besonnen«, sagte er. »Darin ähnelt er seinem Vater.«
»Ein kluger Junge, ja, das ist er. Die Leute lieben ihn.« Michael verschränkte grinsend die Hände im Nacken. Als er sich zurücklehnte, glänzte seine seidene Tunika im Licht der Talglampe. »Du und Miklos seid ihm genauso verfallen. Als wäre er ein Mädchen mit Rosenlippen.«
Gábor schüttelte unwillig den Kopf. Michaels Geschmacklosigkeiten waren keine Antwort wert.
»Wir sollten überlegen, wie wir ihn endlich aus dieser unwürdigen Geiselhaft befreien«, erwiderte er stattdessen. »Ein Bittgesuch des ungarischen Reichstags beim König wäre wohl am wirkungsvollsten.«
Michael und Pavel wechselten einen Blick. Gábor verengte die Augen. Erneut hatte er das Gefühl, dass die beiden etwas vor ihm verbargen.
»Reden wir ein andermal darüber«, sagte Pavel gedehnt und erhob sich. Aus seinen gelben Augen blitzte der Wolf. »Jetzt wird es Zeit für die Jagd.«
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21 . Kapitel
Die Höhlen von Sfântul Munte, Herbst 1457
V eronika strich vorsichtig über das vergilbte Papier. Es war eine Abschrift der fünfhundert Jahre alten Aufzeichnungen eines deutschen Mannes namens Adalbert, der Mönch und Werwolf zugleich gewesen war. Wie oft hatte sie die Worte schon gelesen? Sie wusste es nicht.
Es war natürlich nur ein Zufall, dass der Text in Deutsch, in ihrer Muttersprache, verfasst war, doch manchmal kam es ihr so vor, als hätte Adalbert seine Erinnerungen nur für sie niedergeschrieben. Und hatte er das im Grunde nicht auch?
Erneut glitten ihre Augen über die Zeilen, so begierig wie beim ersten Mal, als könnte sie ihr Geheimnis lüften, wenn sie sie nur oft genug las.
Es betrug sich am Dreykoenigsfest im Jar 955 unseres Herrn, auf der Via Francigena, dem heyligen Pilgerweg nach Rom ueber di Alpen.
Wir erreychten das Kloster der frommen Weyb von Antremont am Fuß des Bergpaßes, den di Leut seit alter Zeyt den Penninus nennen.
Di Wolk hingen ganz schwarz und schwer ueber dem Berg, so gedachten meyne zwey Moenchbrueder und ich hir zu rasten.
Zu Hauf standen di Schwestern beysamm, uns zu begrueßen.
Di Oberin gab uns Obdach in eyner Scheun. Wir waren zufriden, eyn trocken Bett aus Stro zu haben, da Blitz und Donner und Gottes Gewalt aufs Land niderfur.
Spaet des Nachts weckte uns ein Schrey, der uns durch Seel unt Menschengebeyn ging. Di Oberin schickte nach Marius, meynem Bruder, der besaß die Weysheyt eynes Medicus. Doch auch Bruder Gotzin und ich warden von Neugir gepackt, unt so eylten
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