Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mondherz

Mondherz

Titel: Mondherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Spies
Vom Netzwerk:
konnten diesen Eindruck trüben.
    In den Höhlen des Berges schliefen fast zwei Dutzend Roma.
Sfântul Munte
nannten sie diesen Ort, heiliger Berg. Veronika war sich nicht sicher, ob der Berg tatsächlich heilig war, aber er war ganz sicher einsam.
    Einst war die ganze Gegend, die sich Dobrudscha nannte und einen Tagesritt vom Schwarzen Meer entfernt lag, von Bauern und Hirten besiedelt gewesen, als das Land noch zum Fürstentum Walachei gehörte. Doch vor vielen Jahren hatten es die Türken erobert. Sie hatten die Bauern umgebracht oder vertrieben. Seither war dieses karge Gebirge ein Rückzugsort geworden für jene, die nicht gesehen werden wollten. Der Sfântul Munte lag hinter zwei finsteren Talschluchten und so abgelegen, dass außer Viktor und den Roma wohl keiner mehr den Weg hierher kannte. Veronika hatte nur dank Paulo hierhergefunden, und der war vor wenigen Wochen wieder fortgeritten.
    Sie öffnete das Band, das ihre Haare zusammenhielt, und durchkämmte die Locken mit ihren Fingern. Die Sommermonate hatten ihr Haar so ausgebleicht, dass manche hellblonde Strähne fast weiß wirkte. Ihre Haut hatte hingegen einen honigfarbenen Ton angenommen. Wie anders sie aussah als noch vor einem Jahr! Nachdenklich blickte sie an sich herunter. Ihre Kleidung hatte die lange Reise hierher nicht überstanden und nun trug sie die farbenfrohe Kleidung der Roma. Doch innerlich fühlte sie sich immer noch fremd. Roma tauchten plötzlich auf oder verschwanden über Nacht, manchmal redeten sie mit Viktor, manchmal nicht. Das alles schien einem geheimen Muster zu folgen, das Veronika aber nicht erkennen konnte. Auch die Romasprache war für sie weiterhin ein Buch mit sieben Siegeln, und sie fühlte sich keinem der Roma nah genug, um die vielen Fragen zu stellen, die ihr im Kopf herumschwirrten. Sie vermisste Solana und hoffte inbrünstig, dass sie ebenfalls hier eintreffen würde. Die anderen Roma begegneten ihr zwar stets freundlich, doch ehrfürchtig zurückhaltend. Sie hatte sich fast schon gewaltsam wehren müssen, um von ihnen nicht wie eine Königin bedient zu werden. Selbst die Kinder schienen nie zu vergessen, wer sie war, und statt mit ihrem Namen wurde sie nur Wolfsfrau gerufen. Sie achteten sie kaum weniger als Viktor, den sie wie einen Heiligen verehrten. Ihn nannten sie
Domnul Lupilor,
Herr der Wölfe, und sie glaubten, dass er Zauberkräfte habe.
    Veronika verstand ihre Ehrfurcht. Sie hatte erlebt, wie Viktor untrüglich wusste, wann neue Roma eintrafen, und auch von Veronikas Ankunft war er nicht überrascht gewesen. Er schien durch Wände sehen zu können, und seine Augen, blau und hart wie Wintereis, vermittelten ihr ein Gefühl, als bohrten sie sich tiefer in ihre Seele, als sie selbst hineinblicken konnte.
    Manchmal erschien er ihr mehr Wolf als Mensch, besonders, wenn sie ihn nachts in den Wäldern heulen hörte. Er tauchte jedoch stets auf geisterhafte Weise wieder auf, wenn sich neue Ereignisse ankündigten. Sie selbst vermied es, sich zu verwandeln, wenn sie ihn draußen in den Wäldern wähnte. Sie wollte nicht mit Viktor gemeinsam jagen gehen. Die Wölfin duckte sich vor ihm und würde ihm in allem folgen. Ihre menschliche Seite war es, die ihm widerstand. Doch wenn sie sich ihm bei der Jagd in ihrer wölfischen Gestalt auslieferte, würde ihm dann auch ihre menschliche Seite verfallen? Sie fürchtete nichts mehr als das. Seit ihrer ersten Verwandlung hatte sie nicht mehr so im Widerstreit mit sich selbst gelegen.
    »Veronika.«
    Sie legte eine Hand vor den Mund, um ihren Schrecken nicht laut werden zu lassen. Die Stimme kam aus dem Höhleneingang hinter ihr.
    »Komm zu mir«, rief Viktor, und sie hörte den Befehlston darin.
    Als ob er wüsste, dass sie gerade an ihn gedacht hatte. Was wollte er von ihr? Eilig raffte sie ihren Rock und erhob sich. Schwarz gähnte ihr die Höhle entgegen. Ihre Kerze war inzwischen erloschen. Vorsichtig tastete sie sich im Dunkeln in Richtung von Viktors Höhle vor. Tief ging es in den Fels hinein. Sie strich mit ihrer Hand die Wände entlang, bis sie schließlich Licht sah.
    In Viktors Kammer spendeten zwei Fackeln flackerndes Licht. Schatten wanderten über die zerfurchten Wände und schienen mit monströs verkrümmten Armen und Fingern nach ihr zu greifen. Doch dafür hatte sie kaum Augen. Jedes Mal, wenn sie hier war, war sie aufs Neue beeindruckt. Dies war nicht einfach eine Höhle. Sie sah ein Wunder der Natur, so erhaben und weitläufig wie das Innere einer

Weitere Kostenlose Bücher