Mondherz
riss sich von ihr los und starrte sie entrüstet an. »Du willst also auch, dass ich mich ins Bett des Königs lege, nur weil in einem alten Dokument davon geschrieben steht?«
»Warum sollte die Prophezeiung nicht wahr sein?« Solana ließ sich von Veronikas bösem Blick nicht beirren. »In meinem Volk gibt es viele Weissagungen, und die meisten haben sich erfüllt. Wir leben in schwierigen Zeiten. Die Türken kämpfen gegen die Christen, der Schwarze Tod zieht durch die Lande, und Drăculea verspritzt wie eine Schlange sein Gift. Stell dir vor«, sie griff wieder nach Veronikas Hand, »ein Kind, das all dies beenden könnte. Ein Kind, dem du das Leben schenkst, damit es die Welt verändert.«
Veronika schüttelte den Kopf. »Du sagst das nur, weil du schwanger bist. Vielleicht ist die Prophezeiung wahr, doch ich bin nicht die Richtige, das sagt mir mein Herz jeden Tag.« Sie fühlte, wie ihr Hals vor Verzweiflung eng wurde. »Ein Kind, das unter Zwang und Leid gezeugt wurde, wie kann das irgendjemanden retten?«
Solana nickte nachdenklich. »Egal wie du dich entscheidest«, sagte sie, »du weißt, dass du bei meiner Familie ein Zuhause hast.« Sie bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln, doch in ihren Augen las Veronika so viel Mitleid, dass sie wegschauen musste.
Seitdem hatten sie nicht wieder darüber gesprochen, allerdings gingen Veronika Solanas Worte immer wieder durch den Sinn. Sie hatte Gábor aufopferungsvoll genannt. Was, wenn er tatsächlich genauso unter der Prophezeiung litt wie sie? Sie schüttelte den Kopf. Die Vorstellung, dass er sie wirklich geliebt hatte, weckte nur noch mehr Schmerz. Nein, sie wollte nicht darüber nachdenken.
Am nächsten Morgen näherte sich ein Reiter. Es war der Bote, den Ilai schon vor drei Monaten nach Prag ausgesandt hatte. Er sprang behende vom Pferd, als sei er nicht tagelang geritten. Seine Augen glänzten vor Aufregung. Wie ein Sturzbach drangen die Worte auf Roma aus seinem Mund.
Rasch trat Veronika an Solanas Seite. »Was sagt er?«, fragte sie gespannt.
»Der König ist tot«, rief Solana. »Vor sechs Wochen ist er in Prag ohne Erben gestorben.«
Veronika schlug sich eine Hand vor den Mund. Um sie herum blickte sie in aufgewühlte, aber auch freudig erregte Gesichter. Kein Roma hatte den König gut leiden können, der mit seinem verstorbenen Regenten Cilli bestimmt hatte, dass das Wandervolk in jeder ungarischen Gemeinde Abgaben zahlen musste. »Steuern.« Solana hatte die Nase gerümpft, als sie ihr einst davon erzählt hatte. »Wir sind doch nicht sein Eigentum.«
Und was bedeutete der Tod des Königs für sie selbst? Veronika dachte sofort an Gábor und Miklos. Jetzt mussten sie nicht mehr vor den königlichen Truppen fliehen.
Viktor erschien so plötzlich wie ein Geist neben ihr. »König Ladislaus ist tot?« Er runzelte die Stirn. »Wie ist er gestorben?«
Der Bote, ein schmaler Roma mit jungenhaften Gesichtszügen, senkte ehrerbietig den Kopf vor dem Werwolf. »Es heißt, an einer Krankheit seiner Gedärme.«
Viktor runzelte die Stirn. »Hast du mit Gábor gesprochen?«
Der Roma nickte. »Er hat mir einen Brief mitgegeben.«
»Gut.« Viktor nickte knapp. »Gib ihn mir.«
Er riss dem Roma das Dokument aus der Hand und wandte sich um. Als er wieder im Höhleneingang verschwinden wollte, nahm Veronika ihren Mut zusammen und rief: »Ich will ebenfalls wissen, was Gábor schreibt.«
Viktors Augen verengten sich, aber sie wich nicht zurück. Schließlich zuckte er die Achseln. »Wie du willst.«
Veronika folgte ihm bis in seine Kammer. Ohne dem Siegel einen Blick zu schenken, riss Viktor den Brief auf. Er packte mit der freien Hand eine der Fackeln, und während er den Brief im Lichtschein las, ging er hinkend in der Höhle hin und her. Veronika versuchte, einen Blick auf den Brief zu erhaschen, und sah, dass der Text in der wölfischen Geheimschrift abgefasst war. Sie konnte kaum ruhig stehen. Sie wollte wissen, was in Prag passierte! Viktors Augen wanderten über das Papier. Seine Miene war verkniffen.
»Was schreibt er?«, fragte sie schließlich atemlos.
Er sah auf, als hätte er ihre Gegenwart vergessen, bequemte sich dann aber doch zu antworten.
»Er hat Mathias Hunyadi vor einigen Monaten den Treueeid geschworen. Er schreibt, der junge Hunyadi sieht Drăculea ebenfalls mit sehr kritischen Augen.« Er schnaubte. »Sie werden gegen Drăculea vorgehen, schreibt er. Doch er bittet um Geduld. Ich soll mich nicht in Gefahr begeben,
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