Mondherz
waren es die Besuche in der Unterstadt, die ihr die größte Freude bereiteten, sei es in einem der Klöster, der wuchtigen Kathedrale, beim Schneider oder bei den Händlern am Hafen. Selten genug hatte sie die Gelegenheit dazu, und stets war sie begleitet von einem Bediensteten. Michael Szilagyi, der wölfische Hauptmann der Burg, hatte dies angeordnet, wobei sie glaubte, dass sie diesen Schutz gar nicht brauchte. Die Leute kannten sie bereits und grüßten sie ehrerbietig als das Mündel von Gábor von Livedil, der rechten Hand des Burgherrn Hunyadi. Niemand wusste, wer sie wirklich war.
Bei diesem Gedanken stach Heimweh in ihre Brust. Ob auch Elisabeth einsam war? Wie es ihr wohl bei der Gräfin Hunyadi in Temeschburg erging? Gerne hätte sie ihr geschrieben, doch das war ihr verboten. Ihre Familie hielt sie für tot. Aber sie lebte noch! Sie holte tief Atem. Es gab Besseres, als den Tag mit Grübeleien zu verschwenden. Sie schloss das Butzenglasfenster und wandte sich ihrem Frühstück zu.
Ihre Edelmagd hatte ihr einen Becher Milch und einfaches Graubrot hingestellt, das sie in die weiße Flüssigkeit tunkte. Keiner der Bediensteten wusste von Veronikas Wolfsnatur. Da sie allein schlief, fiel niemandem auf, wenn ihr Lager in den Nächten der Verwandlung leer blieb. Obwohl die Edelmagd, die in einer Nebenkammer schlief, sie einmal beim Fortschleichen ertappt hatte, vermutete sie ihre Herrin in den Armen eines Mannes, das war aus ihren verschämt fragenden Blicken am nächsten Morgen deutlich zu lesen gewesen. Vor wenigen Monaten wäre Veronika noch bestürzt gewesen, wenn man ihr eine Affäre unterstellt hätte, jetzt war sie froh darüber. Wie entsetzt die Menschen wären, würden sie von ihrer wahren Natur erfahren! Unwiderruflich trennte sie ihr Geheimnis von ihnen, und oft fühlte sie sich einsam deswegen. Nicht einmal einem Priester durfte sie sich während der Beichte anvertrauen, ja, ein Gottesmann war, wie sie schmerzhaft durch Pater Antons Tod erfahren hatte, der am wenigsten geeignete Gesprächspartner. Ob Gott ihr jemals vergab, dass sie sich mit ihrer neuen Natur fast schon abgefunden hatte? Die Furcht vor der Kreatur in ihrem Inneren war inzwischen zu einem flüsternden Missbehagen herabgesunken. Was konnte sie schon tun? Sie würde niemals mehr ein Mensch sein, das hatte sie inzwischen akzeptieren müssen.
Rasch beendete sie ihr Frühstück. Gleich würde ihr Lehrer für Ungarisch eintreffen, ein junger Hofgelehrter aus Hunyadis Gefolge. Sie konnte schon einfache Sätze in dieser komplizierten Sprache formulieren, die so fremdartig für ihre Zunge war wie der Pfeffer, mit dem die Ungarn sämtliche Speisen würzten. Sie hatte sich jedoch mit viel Eifer auf die neue Aufgabe gestürzt, denn schnell war ihr klargeworden, dass bis auf ein paar Adlige und Händler kaum jemand ihren steirischen Dialekt verstand. Sie befand sich nun auf ungarischem Hoheitsgebiet, und auch wenn die einfachen Belgrader Bürger weiterhin auf Serbisch stritten, beteten und tratschten, die Aristokratie und der Klerus sprachen ungarisch miteinander.
Während die Magd noch das Geschirr beiseiteräumte, klopfte es bereits an der Tür.
»Jó reggelt«, begrüßte der Lehrer sie auf Ungarisch. »Guten Morgen!«
Während ihrer heutigen Lektion fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren. Ihre Fingerspitzen kribbelten und ihre Gedanken flatterten ruhelos umher. Seit über einer Woche hatte sie die Verwandlung nicht mehr vollzogen, und die Wölfin in ihrem Inneren dürstete nach der Freiheit der Wälder. Veronika wusste, was sie brauchte: Eine atemlose Jagd, an deren Ende sie die Zähne in eine Beute schlagen konnte. Sie richtete die Augen starr auf den ungarischen Text in ihren Händen, um gegen ihre Unruhe anzukämpfen. Den misstrauischen Waffenstillstand, den sie mit der Wölfin geschlossen hatte, mochte sie nicht aufs Spiel setzen, indem sie ihr noch länger die Jagd versagte.
Heute Nacht,
beschwor sie die Kreatur,
heute Nacht darfst du rennen, wenn du mich jetzt in Ruhe lässt.
Michael und sie hatten bereits verabredet, heute in die Wälder zu gehen. Sie war froh über seine Gesellschaft, seinen ungezwungenen Umgang mit ihrer wölfischen Natur. Nur selten unternahm sie allein die nächtlichen Ausflüge. Gábor hatte ihr an dem Abend vor seiner Abreise noch beigebracht, wie sie sich verwandeln konnte, und, was noch wichtiger war, wieder den Weg zurück zu ihrer ursprünglichen Gestalt fand.
Denkt an den Schmerz des ersten
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