Mondherz
staunte, wie weit der Mauerbau inzwischen vorangeschritten war. Hoch ragte das neu befestigte Tor mit den beiden Wachtürmen vor ihr auf.
»Frau Veronika, was für eine Überraschung. Wollt Ihr kontrollieren, wie es um Eure Sicherheit steht, wenn die Türken kommen?«, fragte jemand. Sie blickte hinunter. Michael Szilagyi war an die Seite ihres Pferdes getreten und nahm dem Wachmann die Zügel ab.
»Guten Tag, Hauptmann Szilagyi«, erwiderte sie fröhlich. Sie mochte ihn und seine spitze Zunge. Als Hauptmann der Festung war er nach seinem Schwager Johann Hunyadi der wichtigste Mann in Belgrad. Trotzdem hatte er immer einen Scherz auf den Lippen, wenn er sie sah, und ein offenes Ohr für ihre Anliegen. Er hatte sie am Belgrader Hof eingeführt und dafür gesorgt, dass sie an seiner Seite an der Abendtafel des Grafen einen festen Platz bekam. Doch wichtiger war noch: Sie hatte das Gefühl, ihm vertrauen zu können. Zu wissen, dass sie einen Unterstützer hatte, der ihr Blut teilte, war anfangs der einzige Grund gewesen, dass sie nicht kopflos zu fliehen versucht hatte. Inzwischen wusste sie, dass ihre Entscheidung zu bleiben die richtige gewesen war. Eine Frau wie sie, ohne Familie und eigenes Geld, wäre der rauhen Welt vor Belgrads Mauern schutzlos ausgeliefert. Michael hatte sie es auch zu verdanken, dass sie allmählich bereit war, ihre Wölfin zu akzeptieren. Der Hauptmann war stolz auf sein Wolfsblut, das hatte er ihr gesagt. Er sah es als strategischen Vorteil, denn es ließ ihn den Menschen überlegen sein. Und wenn sie zu zweit waren, sprach er mit einer unbekümmerten Freude über ihre nächtlichen Ausflüge, als seien sie nicht ungewöhnlicher als ein menschlicher Jagdausflug. Nur wenig schien er überhaupt ernst zu nehmen, und damit war er genau das Gegenteil des überaus ernsthaften Gábors, dachte sie. Der war seit dem Sommer im Auftrag des Grafen im ganzen Land unterwegs und schien sich kaum mehr für sie zu interessieren. Aber was kümmerte sie das, sie sollte doch froh sein, dass er sie in Ruhe ließ! Rasch verbannte sie die verdrossenen Gedanken und ließ sich von Michael vom Pferd heben. Er war so groß und muskulös wie ein Stier, und um ihm weiterhin ins Gesicht zu blicken, musste sie den Kopf in den Nacken legen.
»Die Bauarbeiten kontrollieren? Das lag nicht in meinem Sinn«, sagte sie. »Ich vertraue lieber auf die starken Arme unserer Ritter als auf Mauersteine.«
»Recht habt Ihr.« Michael lachte. »Und deshalb kümmert Ihr Euch höchstpersönlich darum, dass wir nicht vom Fleisch fallen.« Er nickte zu seinem Leibdiener hinüber, der mit dem Essen bepackt dastand. »Wollt Ihr uns bei der Mahlzeit Gesellschaft leisten?«
»Gerne.« Sie begleitete ihn zu einem Tisch, der ein Stück von der Baustelle entfernt in der Sonne stand. Auf einen Wink von Szilagyi räumte der Baumeister rasch die Pläne beiseite, die darauf ausgebreitet lagen.
»Ist es Euch zu kalt, um hier draußen zu speisen?«, erkundigte sich Michael. Sie verneinte. Sie freute sich, nach den verregneten Herbstwochen wieder an der Sonne sein zu können. Gábor hatte recht gehabt, als er sagte, dass die neue Werwolfsnatur ihren Körper stärken würde. Seit Miklos’ Biss war sie gegenüber Kälte unempfindlicher als früher. Außerdem schienen jegliche Krankheiten einen großen Bogen um sie zu machen, und sie benötigte weniger Schlaf. Sie unterdrückte eine Grimasse. Ein paar gute Seiten hatte ihre wölfische Hälfte, auch das hatte sie sich inzwischen eingestanden. Zu den schlechten Seiten gehörte allerdings, dass sie ständig Hunger verspürte. Jede Nahrung schien ihr Körper augenblicklich zu verzehren, und wie ein Verdurstender, der lediglich einen Schluck Wasser erhielt, verlangte er ständig Nachschub. Um bei den gemeinsamen Banketten nicht ungebührlich aufzufallen, nahm sie stets Zwischenmahlzeiten zu sich. Die Männer kannten solche Zurückhaltung nicht. Michael stürzte sich nun jedenfalls wie ein ausgehungerter Wolf auf das Essen. Erst nach den ersten großen Bissen schenkte er ihr Wein ein und hob galant den Becher auf ihre Gesundheit, bevor er trank.
Nach einer Weile setzte sich auch Laszlo Hunyadi zu ihnen. Er war der älteste Sohn von Graf Johann Hunyadi, ein wortkarger Bursche und nur wenige Jahre älter als Veronika. Sein Vater, der gerade ebenfalls in Belgrad weilte, verkroch sich zunehmend in seinen Zimmern, um, wie man munkelte, Strategien gegen die Türken auszuarbeiten. Laszlo Hunyadi war dagegen oft
Weitere Kostenlose Bücher