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Mondherz

Mondherz

Titel: Mondherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Spies
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so misstrauisch wie Gábor, der mit seinem Narbenschüler angeblich zurückgezogen wie ein Einsiedlerwolf lebte. Sie schloss die Augen und döste, bis das Wasser nur noch lauwarm war.
    Gemeinsam mit ihrer Edelmagd wählte sie anschließend ein graublaues Kleid aus samtenem Stoff aus, das die Farbe ihrer Augen und ihre schlanke Taille gut zur Geltung brachte. Sie wollte gut aussehen heute Abend, das würde ihr hoffentlich genug Selbstvertrauen geben, um Gábor gefasst gegenüberzutreten. Sorgfältig zog sie das Kleid über ihre Schultern, verbarg das rote Feuermal, das ihre rechte Schulter seit ihrer Geburt verunstaltete. Sie war es gewohnt, damit zu leben, doch sie verabscheute die Blicke, die es auf sich zog, wenn es unbedeckt war.
    Die Edelmagd flocht Perlenschnüre in Veronikas langes Haar, das sie als unverheiratete Jungfrau offen trug. Dies dauerte lange, und allmählich verflog die Ruhe, die ihr das Bad beschert hatte. Schließlich war sie so zappelig, dass die Magd sie nur noch mit Mühe zu bändigen wusste, um sie schminken und schmücken zu können. Endlich war die Dienerin fertig und trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu betrachten. Veronika las die Zufriedenheit in ihren Augen. Rasch griff sie zum Spiegel. Es war, als blicke ihr eine hochmütige Fremde entgegen. Der Herbst hatte ihre Haut wieder blass werden lassen, und helles Puder ließ ihr Antlitz zerbrechlich und kalt wie das einer Eisstatue wirken. Ihre Brauen waren gezupft und in die Form von Schwalbenflügeln gebracht worden. Das blonde Haar umfloss ihr Gesicht in weichen Wellen, in denen die Perlen glitzerten wie Muschelschalen auf dem Meeresgrund. Die Farbe des Kleides wiederholte sich in ihren nebelgrauen Augen. Die Magd hatte ihr ein paar Tröpfchen Belladonna in die Augen gegeben. Die Essenz aus der giftigen Frucht des Tollkirschenbaums weitete ihre Pupillen und erzeugte so einen entrückten und fast überirdisch offenen Eindruck. Doch Veronika wusste, das sanfte Bild war trügerisch; als sie tiefer in den Spiegel hineinblickte, taten sich zwei dunkle Abgründe auf, deren Ausdruck nur mit einem Wort zu beschreiben war: Hunger.
    Alarmiert zuckte sie zusammen und blickte zu der Magd hinüber. Konnten die Menschen das Gleiche in ihren Augen lesen, sahen sie den Wolfstrieb, dem sie seit einer Woche nicht mehr nachgegeben hatte?
    Doch die Frau schaute sie nicht etwa mit Entsetzen an, sondern vielmehr fragend. Die Zufriedenheit in ihrem Gesicht begann Zweifel zu weichen. »Habt Ihr etwas auszusetzen, Herrin?«
    »Oh nein«, beruhigte Veronika sie eilig. Sie erinnerte sich daran, wie sie die stille Dienerin vor wenigen Tagen erst fürchterlich erschreckt hatte. Eines der neuen Kleider war für Veronika zu weit gewesen, und so hatte es die Edelmagd mit Nadeln um ihre Taille festgesteckt, um es später nähen zu können. Geistesabwesend hatte Veronika währenddessen den Geräuschen auf dem Burghof gelauscht. Schreie und das Hufgetrappel von Pferden hatte sie aufgeschreckt. Für einen Augenblick hatte sie geglaubt, Gábors Stimme zu hören. Für die Magd, deren Gehör längst nicht so fein war, kam Veronikas Bewegung zu den Fenstern hin völlig überraschend. Beide schrien sie auf, als sich eine der Nadeln in Veronikas Seite bohrte. Doch der Schrei der Magd endete abrupt in einem erstickten Stöhnen, als sie gegen die Wand geschleudert wurde. Veronika hatte ihr instinktiv einen Stoß versetzt, der sie durch den halben Raum geworfen hatte. Sie hatte sich nicht verletzt, doch Veronikas hastige Entschuldigungen schafften es kaum, den Schreck aus ihrem Gesicht zu vertreiben. Obwohl die Nadel tief in Veronikas Seite steckte, blutete die Wunde kaum, als sie sie selbst wieder herauszog. Um die blasse Magd nicht weiter zu beunruhigen, täuschte sie stärkere Schmerzen vor, als sie empfand. Am gleichen Abend hatte sie sich geschworen, wachsamer zu sein, um solche Zwischenfälle in Zukunft zu verhindern.
    So auch jetzt. Sie drängte die Wölfin in ihrem Inneren zurück, bis sie nur noch ein Schatten war. Gewandt erhob sie sich und lächelte ihrem Spiegelbild zu, das nun wieder harmlos wirkte. Dann machte sie sich auf den Weg hinunter in die Halle, wo die Speisen bereits aufgetischt wurden.
     
    Als Gábor die Halle betrat, war sein Mantel nass vom Schnee, der draußen in feinen Flocken auf die Straßen niederging. Miklos, der ihn bei seiner Reise begleitet hatte, hatte er draußen im Hof zurückgelassen. Da sein Schüler keinen Adelstitel trug, war ihm der

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