Mondherz
so gelang es ihm, unter den fliegenden Fäusten hindurchzutauchen und einen der Angreifer vors Schienbein zu treten, so dass er taumelte. Arpad tauchte wie ein Schatten hinter dem Jungen auf und stieß ihn zu Boden.
»Gut, Gábor«, schrie er und grinste weiter wie ein Verrückter. »Schnappen wir uns den anderen!«
Gemeinsam brachten sie auch den anderen Jungen zu Fall, und auf einmal war der Kampf vorbei. Überrascht stellte Gábor fest, dass nur noch vier Jungen standen, und er war einer von ihnen.
Lachend klatschte der Anführer in die Hände. Nur seine Augen lachten nicht. »Kommt mit, Sieger, ich halte meine Versprechen!«
Vor Erschöpfung schwankend folgten ihm die vier Jungen. Gábor drehte sich noch einmal um und schaute zu jenen, die auf dem Boden saßen und ihnen mit traurigen Blicken hinterhersahen.
»Komm!« Arpad packte Gábor am Arm und schob ihn neben sich her. »Endlich kriegen wir was zu essen.«
»Warum hast du mich als Erstes geschlagen?«, fragte Gábor ihn leise, während er neben ihm hertrottete. »Ich hab dir nichts getan.«
Arpad nickte zum Yayabaşı, der mit wehendem Mantel vorauseilte. »Jetzt denkt er sicher gut von mir.« Er grinste und zeigte eine breite Zahnlücke. »Mein Schlag war doch nicht allzu fest, oder? Und später hab ich dir geholfen. Du scheinst ganz in Ordnung zu sein.«
Gábor sagte nichts mehr, blieb jedoch in Arpads Nähe.
Daran änderte sich auch in den nächsten vier Jahren nichts, die beiden Jungen hielten zusammen – bis Gábor floh.
Gábor beugte sich noch tiefer über seine Stute, während die Felder an ihm vorbeizogen. Es war leichtsinnig, so schnell zu reiten, zu bald würde sein Pferd erschöpft sein. Doch er wollte den Erinnerungen entkommen, die ihn seit Pavels Worten quälten. An Arpad und den Yayabaşı hatte er so lange nicht mehr gedacht, und jetzt hatte er ihre Gesichter so deutlich vor Augen, als wäre alles gestern geschehen.
Viktor kannte als Einziger die Einzelheiten über Gábors Jahre bei den Janitscharen. Er wusste um die täglichen Kämpfe der Jungen gegeneinander, um genug zu essen zu bekommen. Er wusste um den unbarmherzigen Drill und von Gábors viel zu früh erlerntem Geschick, zuerst Ziegen, dann christlichen Gefangenen mit einem Handstreich die Kehle aufzuschlitzen. Und er wusste um die Grausamkeiten, die die älteren Männer den Jungen zugefügt hatten, bei Tag und bei Nacht. Wenn Viktor ihm sagte, dass er in Belgrad alte Bekannte treffen konnte, dann musste er sich ihnen stellen. Viktor hatte den Rat gegeben, die Tore zu verstärken. Deutlicher hätte er nicht sagen können, was er vermutete: Saboteure! Gábor knirschte mit den Zähnen.
Hoffentlich kam er nicht zu spät!
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10 . Kapitel
Belgrad, Juni 1456
D ie Explosion erfolgte mit einer solchen Wucht, dass Veronika für einen Moment glaubte, jemand hätte ihr mit Fäusten auf beide Ohren geschlagen. Sie fuhr hoch und war Augenblicke später auf den Beinen. Ein Tisch war umgefallen, und aus dem Fresko über ihr fielen kieselgroße Stücke herunter. Schreie gellten durch die Festung.
»Miklos«, rief sie und rannte zu der geheimen Kammer hinüber. Gestern Abend hatte er sich hierher zurückgezogen, um sich zu verwandeln. Sie hatte währenddessen auf dem Lager in Gábors Zimmer gedöst und achtgegeben, dass niemand hereinkam.
»Miklos«, rief sie noch einmal. In der Kammer rumpelte es. Sie hob den Teppich, der die Tür verbarg und schob den Riegel zurück, dann ergriff sie einen Stapel von Miklos’ Kleidern und warf ihn durch die halbgeöffnete Tür ins Dunkel der Kammer. »Es hat einen neuen Angriff gegeben!«
Die Antwort war ein mürrisches Brummen, das gemeinsam mit einem stickigen Schwall Raubtiergeruch zu ihr herausdrang. Sie wich einen Schritt zurück und trat ans Fenster, öffnete mit zwei Handgriffen die Läden. »Beeil dich!«
Draußen graute der Morgen. Doch die ersten Sonnenstrahlen drangen kaum durch die Wolken von Staub, die über den Hof waberten. Männer in Kettenhemden hasteten vorbei. Immer noch ertönte lautes Geschrei. Sie wippte auf den Zehen auf und ab. Der Einschlag war nah gewesen, viel zu nah. Hatte er die Mauer zum Einsturz gebracht? Warum sonst sollten es die Kriegsknechte so eilig haben!
Endlich trat Miklos aus der Kammer. Seine Haare waren zerrauft, die Narben leuchteten in aufgeregtem Rot.
»Was ist los?«, fragte er. Gleichzeitig schlug mit lautem Knall eine weitere Kanonenkugel ein, nur wenige hundert Schritt entfernt. Mit
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