Mondherz
Brüderchen.« Sie beugte sich über ihn und küsste ihn auf die vernarbte Wange. Sanft strich sie ihm über die Hand, bis seine Augen zugefallen waren. Sein Atem zeugte von tiefem Schlaf, der ihn gesunden ließ. Sie sprach ein kurzes Dankgebet, dann erhob sie sich.
Während sie hinausging, wanderten ihre Gedanken von Miklos zu Gábor. Er hatte für fremde Ketzer sein Leben riskiert und vorher versucht, eine todkranke Frau zu retten. Wie hatte sie nur an ihm zweifeln können? Sie … sie vermisste ihn. Wie seltsam, dass sie sich dieses Gefühl zuvor nicht eingestanden hatte. Als würden die Gedanken an Gábor ihre Wölfin rufen, drängte sie plötzlich nach vorne. Sie spürte die Wärme der Nachtluft wie ein Prickeln auf ihrer Haut und hörte die vielfältigen Geräusche der Nacht. Das ferne Rauschen der Flüsse, der Wind zwischen den Dachschindeln des Klosters, die grollenden Rufe der Kriegsknechte auf den Mauern. Und über allem schickte der Mond sein bleiches Licht aus. Der Wunsch, sich zu verwandeln, wurde so übermächtig, dass ihre Finger sich zu Krallen formten. Fast konnte sie Gábors schlanke, dunkle Wolfsgestalt neben sich spüren, seinen Duft einatmen, während ihr gemeinsamer Herzschlag wie ein dumpfes Pochen die Nachtluft durchdrang.
»Hör auf!«, flüsterte sie ihrer Wölfin zu, verwirrt und auch ein bisschen beschämt. Sie blieb stehen und lehnte ihre glühende Wange gegen die kühle Klostermauer. Erst als ihr Herz langsamer schlug, schlich sie sich an einem schnarchenden Mönch vorbei durch die Pforte und hinaus auf Belgrads dunkle Gassen. Der Wachmann, der sie hierher begleitet hatte, war nirgends zu sehen, vielleicht hatte er sich einen Platz zum Schlafen gesucht.
Sie gähnte und schlug den Weg Richtung Festung ein. Das Mondlicht wurde immer mehr von Wolken verdeckt, und nur hier und da drang der gedämpfte Schein einer Talglampe hinter geschlossenen Läden auf die Gassen heraus. Einer Patrouille von Nachtwächtern, die laut rufend mit ihren Laternen die Gasse herunterkamen, wich Veronika aus. Gerade in einer belagerten Stadt, hatte ihr Michael erklärt, war es entscheidend, die Ordnung aufrechtzuerhalten. So hatte der Stadtrat von Belgrad die Männer der Nachtwache verdoppeln lassen. Wenn nicht gerade ein Angriff drohte, war es den Bürgern nachts verboten, ihre Häuser zu verlassen. Zum Glück hatte die Patrouille sie nicht gesehen.
Plötzlich hörte sie barfüßige Schritte, leise und schnell, die ihr entgegenkamen. Sofort war sie wieder hellwach. Dies war gewiss kein Nachtwächter! Sie drückte sich gegen die Wand. Eine Gestalt kam um die Ecke, ein schmaler Schatten, nicht größer als sie. Nur ein Dutzend Schritte vor ihr hielt er inne. Hatte er sie bemerkt? Nein, er war vor einer Tür stehen geblieben, klopfte nun sachte dagegen. Holz knarrte in Eisenangeln, als sich die Tür öffnete und hinter dem Schatten wieder schloss. Veronika bewegte sich nicht.
»Da bist du ja endlich!«, murmelte jemand. Menschen hätten die Worte durch die geschlossene Tür kaum vernommen, doch Veronika verstand sie genau. Sie hielt den Atem an. Eine andere Stimme antwortete halblaut, in einer Sprache, die ihr nicht geläufig war. Sie runzelte die Stirn. Beide Stimmen klangen hell, doch der Rhythmus und der Klang der zweiten erinnerte sie an die Rufe der Männer jenseits der Mauern. Sprach er etwa türkisch? Das wäre mehr als sonderbar.
»Sprich gefälligst ungarisch!« Der Erste klang ebenso irritiert wie sie. Sein Gegenüber reagierte nicht darauf, sondern fragte: »Wo sind die anderen?«
So, wie die beiden klangen, mussten es halbwüchsige Jungen sein. Fast wäre Veronika weitergegangen, doch die Antwort des Ersten ließ sie stocken.
»Arpad hat gesagt, dass es sicherer ist, wenn ich mich mit jedem von euch einzeln treffe.«
»Warum kommt er nicht selbst?«
Ein Klatschen ertönte. »Dummkopf! Hast du alles vergessen? Du wirst ihn erst in fünf Tagen sehen. Fünf Tage, dann schlagen wir zu. Halte deinen Dolch bis dahin gut versteckt. Das richtige Stadttor weißt du hoffentlich noch.«
Der andere brummte nur. Veronika beugte sich noch weiter vor, um kein Wort zu verpassen. Dabei stieß sie mit dem Arm gegen einen halboffenen Fensterladen. Er quietschte so laut, dass sie zusammenzuckte. Sie spürte, wie sich ihre Wölfin wachsam aufrichtete. Im Haus wurde es still.
»War das der Wind?«, wisperte der als Dummkopf Bezeichnete.
Der andere stieß den Atem ruckartig aus. »Das hoffe ich für dich. Bist du
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