Mondherz
sinken.
Er umfing sie mit den Armen. Sein Atem strich über ihr Gesicht, als er sich über sie beugte. Und dann war sein Mund auf dem ihren, warm und sanft. Sie riss die Augen auf.
»Nein«, entfuhr es ihr. Sie wand sich aus seinem Griff. Ihre Wangen brannten vor Scham. Sie legte eine Hand auf ihre Lippen. Sie fühlten sich seltsam an, als wären sie ihr durch den Kuss fremd geworden.
Erst jetzt blickte sie zu Michael auf. Er hatte sich nicht bewegt. In seinen Augen leuchtete der dunkle Glanz des Wolfs. Er roch auch nach Wolf, und seine Brust hob und senkte sich unter flachen Atemzügen.
»Das durftet Ihr nicht!« Sie stieß die Worte heftig hervor, als könne sie damit ihren raschen Herzschlag übertönen.
Kurz verengten sich seine Augen, dann hob er die Hände. »Es tut mir leid«, erwiderte er. »Ich wollte Euch nicht überrumpeln.« Er trat einen Schritt auf sie zu. »Ihr vertraut mir doch?«
Sie nickte, doch sie war sich nicht sicher. Plötzlich musste sie an Gábor denken. Ihre Wangen glühten erneut auf. Sie spürte noch Michaels Wärme an ihren Schultern, seinen Geschmack auf ihrem Mund.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, fuhr er sich mit den Fingern über die Lippen. Er hatte den Blick immer noch auf sie geheftet. »Ihr seid wunderschön«, flüsterte er. Er lächelte und streckte seine Hand nach ihr aus. »Kommt wieder her.« Seine Stimme war rauh.
Sie wich zurück. Ihre Verwirrung war so groß, dass sie stolperte. »Haltet Ihr mich für eine Dirne?«, rief sie und verschränkte die Arme vor der Brust, bemühte sich, seinem Blick standzuhalten. Sie merkte selbst, wie schrill ihre Stimme klang. O Gott, wie hatte sie den Kuss nur zulassen können!
Michaels Mundwinkel fielen nach unten. Seine Augen wurden wieder heller, als sich sein Wolf ein Stück zurückzog.
»Nein, das tue ich nicht. Ihr …« Für einen Moment schien er tatsächlich nicht zu wissen, was er sagen sollte. »Ihr könnt nichts dafür, dass Ihr für einen Werwolf, für einen Mann wie mich voller Verlockungen seid«, fuhr er fort. Er schien erneut einen Schritt näher treten zu wollen, doch dann hielt er inne. »Hat Gábor Euch vor mir gewarnt?«
Sie wandte den Blick ab.
»Das sieht ihm ähnlich«, murmelte er, »dem Weib, das er selbst nicht haben kann, alle anderen auszureden.«
»Wie meint Ihr das?«
»Oh, er hat Euch für höhere Weihen bestimmt«, erklärte er. Er hob spöttisch die Augenbrauen, doch seine Augen blickten ernst. »Er hat mir befohlen, die Finger von Euch zu lassen, als wäret Ihr ein Gut, das ich ihm stehlen könnte. Doch Ihr habt einen wachen Verstand. Ihr könnt selbst entscheiden, ob Ihr meine Gesellschaft vorzieht.« Er verstummte, starrte sie abwartend an.
Sie hielt die Arme immer noch vor ihrer Brust überkreuzt. Verlangte er tatsächlich, dass sie zwischen Gábor und ihm irgendeine Art von Wahl traf?
»Ich dachte, Ihr wäret mein Freund«, stieß sie hervor.
»Das bin ich«, erwiderte er.
Ich könnte noch mehr sein,
sagte sein Blick.
Nur einen kurzen Herzschlag zögerte sie, und dieses Zögern erschreckte sie selbst am meisten. »Dann lasst die Finger von mir, wie Gábor gesagt hat«, erwiderte sie. Das leichte Zittern in ihrer Stimme konnte sie nicht unterdrücken. »Und das ist meine eigene freie Entscheidung.«
»Frei?« Michael hob die Schultern. Seine Augen schimmerten dunkel, und es war Enttäuschung, die sie darin las. »Ihr werdet nicht frei sein, solange Ihr bei Gábor bleibt. Aber ich will Euch nicht im Weg stehen. Anscheinend besitzt er nicht nur Euren Verstand, sondern auch Euer Herz.«
Er verzog den Mund zu einem bitteren, traurigen Lächeln, das Veronika am liebsten nie gesehen hätte – genauso wie sie seine Worte nie hätte hören wollen. Sie fuhr herum und eilte ohne Abschiedsgruß davon.
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11 . Kapitel
Belgrader Umland, Juli, 1456
H underte Flaggen und Wimpel flatterten über einem Meer von Zelten. Darunter war die
Ak Sancak,
die weiße und goldene Fahne des Sultans, trotzdem deutlich zu erkennen. Auch das rote Banner der Janitscharen, das im Wind knatterte wie hämisches Gelächter, war nicht zu übersehen.
Wohlüberlegt hatte Gábor einen Weg eingeschlagen, der ihn in möglichst großer Distanz um das Quartier der osmanischen Oberbefehlshaber herumführte. Die einfachen Soldaten würden ihn nicht behelligen. Er lächelte zynisch, während er an sich herunterblickte. Mit seinem weißen Turban und dem blauen Kaftan, der mit goldenen Borten verziert war, sah er weit
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