Mondkuss
aufstehen, duschen und dann zur Kanzlei eilen musste, statt sich erneut an ihn zu kuscheln. Leise stand sie auf und huschte unter die Dusche.
Als sie zurückkam, lag Rafael wach im Bett. „Guten Morgen, Prinzessin. Gut geschlafen?“ „Himmlisch“, lächelte sie. „Und du?“ „Dito!“ Er drehte sich auf den Bauch, stützte sich auf seine Ellbogen und legte das Kinn in die
Hände. Dann beobachtete er sie beim Ankleiden. „Du siehst wunderbar feminin aus.“ Er sah Marleen zu, die in den Rock eines schokoladenfarbenen Kostüms stieg. „Ich bin eben gerne Frau“, erwiderte diese lächelnd und zog den Reißverschluss hoch. Sie kramte in den Schubladen ihrer Kommode aus Walnussholz. Während sie sich zwei kleine Ohrstecker anlegte, setzte sie sich zu ihm auf den Bettrand. Rafael streckte die Hand aus und strich ihr übers Haar. Sie griff nach seiner Hand, zog sie an ihre Lippen. „Ich würde mich jetzt gerne zu dir legen, aber ich muss los. Bist du heute Nachmittag noch da?“ „Nein. Ich muss auch bald los. Ich werde mich bei dir melden, okay?“ „Okay.“
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Marleen zog ihre Joggingschuhe an und machte ein paar Dehnübungen. Nach dem langen Tag am Schreibtisch war es zu einer lieb gewonnenen Gewohnheit geworden, regelmäßig ihre Runde durch den Grüneburgpark zu drehen. Ihre Wohnung lag im nördlichen Teil des Frankfurter Stadtteils Westend, der Grüneburgpark nur ein paar Meter davon entfernt. Seinen Namen bekam er von der nicht mehr vorhandenen „Grüneburg“, dem Landsitz der Familie Rothschild. Er war der ehemalige Privatgarten der Familie, die diesen vor über hundertfünfzig Jahren im Stil eines englischen Landschaftsgartens anlegen ließ. Heute war er der Öffentlichkeit zugänglich, die ihn liebevoll „Grüni” nannte. Das Areal bot weitläufige Wiesen mit eingestreuten Baum- und Buschgruppen, Alleen, Schmuckbeete, Laubengänge, einem Teich und Pavillons. Seine zentrale Lage machte ihn zu einem beliebten Ort. Studenten, schwänzende Schüler, musizierende Jugendliche und zur Mittagspausenzeit auch frischlufthungrige Businessleute aus den umliegenden Büros saßen auf den Bänken oder lagen auf den Wiesen, sobald es das Wetter zuließ. Große Bäume spendeten im Sommer Schatten, und auf den gepflegten Beeten blühte es prachtvoll.
Marleen war gerne hier, zog es auch vor, alleine zu joggen, sich keiner Gruppe anzuschließen oder gar Bekanntschaften zu machen. Ihr war es teilweise schon zuwider, wenn sie bekannte Gesichter sah, und sie sich gezwungen fühlte, einen netten Gruß zu übermitteln. Sie wollte hier einfach alleine sein, die Seele baumeln lassen, tief durchatmen und jeglichen Stress abstreifen.
Sie konzentrierte sich auf ihre Schrittfolge und darauf, ein gleichmäßiges Tempo beizubehalten, trieb sich selbst an, denn ihr Ziel war es, ihre Strecke nicht in fünfzehn Minuten, sondern in zwölf Minuten zurückzulegen. Ihr Atem ging gleichmäßig, die ersten Schweißperlen standen ihr auf der Stirn.
Der Klang herannahender Schritte störte ihre Konzentration. Sie war so mit sich selbst beschäftigt, dass ihr dieser Ton übermäßig laut vorkam. Warum überholt derjenige nicht? Marleen drosselte das Tempo, um den Jogger hinter ihr zum Überholmanöver anzuregen. Doch nichts geschah … die Laufgeräusche blieben unverändert. Sie erhöhte das Tempo, um den Hintermann abzuschütteln, aber derjenige zog auch wieder an. So verfiel sie wieder in einen langsameren Schritt. Doch auch diesmal passte sich der andere Jogger ihrem Tempo an. Ihr Ärger wuchs. Warum konnte diese Person, zu der sie sich auf keinen Fall umdrehen wollte, nicht einen Höflichkeitsabstand halten? Dies war schließlich ein ungeschriebenes Gesetz unter Joggern. Sie biss sich auf die Lippen, lief erneut langsamer, doch auch diesmal dachte ihr Hinterläufer gar nicht daran, an ihr vorbei zu joggen. Ihr Ärger verwandelte sch in Angst. Wurde sie etwa verfolgt? Okay, es war helllichter Tag, aber auch dies hielt, sollte man den Pressemeldungen glauben, niemanden mehr davon ab, Passanten zu überfallen und auszurauben. Bei dem Gedanken stellten sich ihre Nackenhärchen auf. Angriff ist der beste Weg zur Verteidigung, dachte sie klopfenden Herzens, drehte sich halb nach hinten und blieb dann ruckartig stehen. „Hey, abruptes Abbrechen des Bewegungsablaufes ist ungesund.“ Eine Gestalt im dunkelblauen Jogginganzug trabte auf sie zu. „Rainer … du?“ Sie wusste nicht, ob sie vor Erleichterung hysterisch lachen oder laut
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