Mondmädchen
als wenn etwas – der Gott? die Angst? – mich losgelassen hätte.
Die Priesterin spürte wohl meine Erregung, denn sie hielt eine Hand in die Höhe. »Ich kann deine Fragen nicht beantworten. Ich sollte dir einfach nur den Zauber zeigen, mit dem du Anubis anrufen kannst. Die Götter erklären sich nicht. Mach doch nicht so ein entsetztes Gesicht, Kind!«, fuhr sie fort. »Das ist ein Zauber, der dir Schutz und Macht schenken kann. Du wirst ihn benutzen, um die Söhne Ägyptens zu retten. Und du wirst wissen, wann du ihn anrufen musst.«
»Aber … aber bedeutet das etwa, dass Anubis mein Schutzpatron ist und nicht die große Göttin?«
Mit weit aufgerissenen Augen wandte Amunet sich zu mir um. »Nein! Anubis dient Isis, seiner wahren Mutter, die ihn großgezogen hat und nicht umgekehrt. Es ist die Göttin, die mein Handeln leitet. Und es wird auch die Göttin sein, die dich anweisen wird, ihren Stiefsohn Anubis anzurufen. Das ist alles, was mir die Götter an Wissen zugestehen.«
Ich senkte den Blick und fühlte mich gedemütigt, aber ich wusste nicht weshalb. Amunet klatschte in die Hände und Dienerinnen fingen an, die Überreste ihres Zaubers wegzuräumen. Ich folgte ihr zur Tür hinaus. »Aber wie werde ich wissen, dass die Göttin mir Anweisungen erteilt? Werde ich ihre Stimme hören?«
»Die Göttin teilt sich mir in Träumen und Visionen mit. Manchmal spricht sie durch unwillkürliche Gedanken zu mir. Es mag sein, dass sie auf die gleiche Weise auch mit dir sprechen wird, aber das können wir nicht wissen.«
Nun, das war nicht besonders hilfreich. »Wirst du mich noch weitere Zauber lehren?«, fragte ich, weil ich dachte, dass ich mich besser fühlen würde, wenn ich noch mehr über die Magie wüsste, als nur, wie man Anubis anrufen konnte.
»Nach deiner ersten Blutung wirst du mit dem Unterricht in der alten Sprache und den alten Gebräuchen beginnen. Dann wirst du auch lernen, wie du Isis’ Magie benutzen kannst. Es ist ungewöhnlich, aber durchaus möglich, dass die Göttin noch vor deiner eigentlichen Lehrzeit den Befehl erteilt, einen Zauber zu lernen.«
»Aber was hat das zu bedeuten?«, fragte ich noch einmal und eilte hinter ihr her, während sie mich zum Ausgang des Tempels führte, wo Katep auf mich wartete.
Amunet blieb stehen und wandte sich zu mir um. »Kind, nur die Götter wissen, was es ›zu bedeuten‹ hat. Es ist nicht an uns, den Göttern Fragen zu stellen, wir sollen gehorchen.«
Danach folgte ich ihr langsamer, während ich überlegte, wo ich diesen Satz schon einmal gehört hatte. Und dann fiel es mir wieder ein. Hatte nicht der Rabbi genau das über den ersten Mann und die erste Frau der Hebräer gesagt? Ich schüttelte den Kopf und war verwirrter denn je zuvor. Wie konnten wir Menschen einen freien Willen haben und uns für die Ma’at entscheiden, wenn es unsere einzige Aufgabe war zu gehorchen?
Normalerweise weckte mich Euginia am Morgen, indem sie auf mein Bett sprang. Zosima beschwerte sich oft, dass sie unser übermütiges Lachen und Kreischen selbst noch unten bei den Latrinen hören konnte. Aber eines Morgens wachte ich alleine auf, ganz ohne ihr Kitzeln und ihr Hüpfen. Hatte sie verschlafen? Ich stand auf und tapste in ihr Zimmer.
»Euginia, soll ich heute Morgen etwa deine Hofdame sein?«, fragte ich und grinste, während ich mich bereit machte, mich auf ihre Schlafcouch zu werfen. Aber ich richtete mich wieder auf, als ich sah, dass sie bereits aufgestanden war. Ihre langen Haare waren zerzaust, ihre Nase gerötet und die Augen geschwollen. Sie legte all ihre schönsten Tuniken und Kleider zu einem Stapel auf dem Fußboden zu ihren Füßen zusammen.
»Was ist los?«, fragte ich besorgt und verwirrt.
»Ich muss hier weg und zu meinem Vater«, sagte sie.
»Was? Du kannst hier nicht weg! Du wohnst jetzt hier! Und … und … du gehörst mir!«
Sie schüttelte den Kopf. »Mein Vater sagt, die Königin wird den Krieg verlieren …«
Ich stieß verblüfft die Luft aus, aber sie fuhr fort.
»Mein Tata hat Alexandria verlassen. Er hat sein Amt niedergelegt und ruft uns, seine Familie, nun zu sich ins Exil. Er hat ein Anwesen in Heliopolis und will den Rest des Krieges dort in Sicherheit abwarten.«
»Er will sein Land verraten?«, fragte ich ungläubig.
»Nein, nicht verraten«, sagte Euginia. »Es ist nur … Er sagt, er will seine Familie in Sicherheit bringen.«
»Aber du bist mir anvertraut«, rief ich. »Du darfst nicht gehen!«
Euginia schüttelte den
Weitere Kostenlose Bücher