Mondmädchen
Amunet ergriff einen Elefantenstoßzahn, der mit Schnitzereien von Symbolen, Ziffern und Zeichen bedeckt war.
Sie stellte sich mit mir in die Mitte des Raumes und platzierte die Schale zu meinen Füßen. Dann setzte sie die Spitze des Stoßzahns auf den Lehmboden und zog einen Schutzkreis um uns herum, während sie im Singsang ein Gebet in der alten Sprache sprach.
»Nun du«, sagte sie und forderte mich auf, die geheimen Worte zu sprechen, während ich den Kreis nachfuhr, der zu pulsieren schien, während wir ihn um uns schlossen. Sie tauchte einen Pinsel aus Ziegenhaar in die Flüssigkeit und sah zu, wie sie abtropfte. Jetzt erkannte ich den metallischen Geruch – Blut. Eine Schale mit Blut. Aber von welchem Opfertier?
Amunet fing an, mit der dicken, klumpigen Flüssigkeit auf den Boden zu unseren Füßen zu malen, wobei sie den Ziegenhaarpinsel immer und immer wieder eintauchte, damit die Linien dick und konturiert wurden. Ich konnte das Bild nicht erkennen und dachte zunächst, es sei eine Hieroglyphe. Aber dann reichte sie mir den Pinsel. »Male die Linien nach«, wies sie mich an. »Du musst das Bild kennen. Du musst es ›sehen‹, um es zu verstehen.«
Ich tat, wie mir geheißen, wobei meine Augen vom Rauch tränten und meine Lungen brannten von der Hitze und dem Geruch des frisch geronnenen Blutes. Dreimal malte ich über das Bild und wartete darauf, das zu sehen, was ich sehen sollte. Aber erst als sich mein Blick durch den Rauch verschleierte und mein Arm müde wurde, die Linien nachzuziehen, begriff ich. Erstaunt ließ ich den Pinsel fallen.
»Anubis!«, krächzte ich. »Das ist das Antlitz von Anubis. Warum lässt du mich den Gott der Toten herbeirufen?«
~ Kapitel 7 ~
»Du brauchst keine Angst zu haben vor dem Gott des Westens, der dein Herz kennt, der Bewahrer der Seele für die Ewigkeit«, flüsterte Anubis.
Mein Atem ging flach, während ich versuchte, meine Angst in den Griff zu bekommen. Der schakalköpfige Gott des Todes und der Totenriten! Warum brachte sie mich dazu ihn anzurufen? Erhob Anubis Ansprüche auf mich? Aber ich wollte nicht sterben! Noch nicht!
»Kannst du seine Gegenwart spüren, mein Kind?«, flüsterte Amunet mir ins Ohr. »Wir haben ihn zu uns gerufen mit dem Blut eines frisch geopferten schwarzen Hundes – nur so kann man Anubis herbeirufen.«
Ich starrte auf das Bild aus Blut zu meinen Füßen, die spitzen Ohren und die lange Schnauze, die ich selbst gezeichnet hatte. Mir schnürte sich die Kehle zusammen, meine Hände zitterten und mein Atem klang so, wie wenn ich es schließlich bis zum höchsten Punkt des Leuchtturmes geschafft hatte. Was sonst konnte dieser Schrecken bedeuten als die Gegenwart des Gottes? Ich nickte.
»Gut«, hauchte sie. »Der dunkle Gott ist in deinem Leben sehr gegenwärtig.«
Ein leises Wimmern entfuhr meiner Kehle, obwohl ich mir selbst befohlen hatte, stark zu sein und mich wie eine Königin zu benehmen. Beschämt schloss ich die Augen und versuchte, meinen Atem zu beruhigen.
»Das bedeutet«, fuhr sie fort, »dass du ihn in Zeiten der Not anrufen kannst, um deine Feinde zu verfluchen und die Söhne Ägyptens zu schützen.«
»Die Söhne Ägyptens zu schützen – was soll das heißen?«, fragte ich. »Und wie soll ich das tun?«
Amunet stand mit geschlossenen Augen wie in Trance da, die Weihrauchschwaden schwebten um sie herum wie Schlangen, die sich um eine hohe Säule wanden. Hatte sie mich gehört? Sollte ich meine Frage wiederholen? Ich hielt den Mund und starrte in ihr Gesicht. Der Rauch brannte mir in den Augen, und ich spürte, wie Tränen der Frustration und der Angst in ihnen hochstiegen.
»Du musst nur wissen, wie du den großen Schakalgott herbeirufen kannst«, sagte sie leise. »Wenn du ihn richtig rufst, kannst du danach gar nichts falsch machen.«
Aber wofür brauche ich ihn denn?, wollte ich schreien. Und von allen Göttern ausgerechnet ihn ! Warum?
Amunets Augen klappten plötzlich wieder auf. »Jetzt«, sagte sie, »zeige ich dir, wie du den Zauber wieder löst.«
»Aber du musst mir sagen, warum …«
Sie warf mir einen scharfen Blick zu, der mich zum Schweigen bringen sollte. Es funktionierte. Sie streute Erde über das mit Blut gemalte Bild in der entgegengesetzten Reihenfolge, wie wir es gemalt hatten, dann ließ sie mich die Handlung wiederholen. Dann zog Amunet den Kreis mit dem Stoßzahn nach, wieder in der entgegengesetzten Richtung. Als wir aus dem Kreis traten, holte ich tief und stockend Luft,
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