Mondnacht - Mordnacht
heißt die Kleine?«
Dinah Hutton überlegte blitzschnell. Jetzt mußte ihr ein Name einfallen.
Zum Glück hatte sie einige Lieblingsnamen parat, und so sprach sie den aus, der bei ihr an erster Stelle stand.
»Simone«.
»Oh, der ist aber toll.«
»Finden Sie?«
»Ja.« Die Frau mit dem runden Gesicht und den dünnen Barthaaren auf der Oberlippe, nickte. »Ein richtig schöner Name ist das, wirklich. Und das Kind ist auch so lieb. Es schreit nicht, es macht kein Theater. Wirklich außergewöhnlich.«
»Da haben Sie schon recht.«
»Und es macht schon eine Reise mit.«
»Warum nicht?«
»Wohin wollen Sie denn?«
Die Neugierde dieser Person fiel Dinah auf den Wecker. Aber sie wollte nicht unfreundlich sein und erwiderte: »Bis kurz vor London.«
»Ah, da sind wir ja bald.«
»Das hoffe ich auch.«
Die Frau gab einige Sekunden Ruhe, dann fragte sie: »Stillen Sie auch, Madam?«
»Nein.«
»Ja, ja, so sind die jungen Frauen heute. Sie stillen nicht. Zu meiner Zeit war das anders.«
»Ich weiß.«
Dinahs Hoffen hatte Erfolg gezeigt, denn ihre Nachbarin hielt in den folgenden Minuten den Mund, und so konnte sich Dinah auf die Umgebung außerhalb des Busses konzentrieren.
Es war deutlich zu sehen, daß sich das Fahrzeug einem Ballungszentrum näherte. Der Verkehr hatte zugenommen. Die Namen der einzelnen Orte, in denen der Bus hielt, um Fahrgäste aufzunehmen oder aussteigen zu lassen, sagte Dinah nichts. Sie war aus ihrem Kaff in den letzten Jahren kaum rausgekommen, dafür hatte schon ihr verfluchter Ehemann gesorgt. Aber die Zeiten waren vorbei.
Dennoch fürchtete sich Dinah Hutton vor der Zukunft. Es war alles so schrecklich für sie. Und sie kam sich vor, als sei sie in kaltes Wasser geworfen worden.
Im Bus saßen zumeist Berufstätige. Mehr Männer als Frauen. Pendler, die in den kleinen Orten wohnten, ihre Arbeitsstellen aber in den Städten hatten.
Der Morgen war längst angebrochen. Nicht hell und licht, eher grau wie der Himmel, vor dessen Kulisse sich noch ein sehr blasser Mond abzeichnete. Er sah wie aus leicht durchsichtigem Talg modelliert, und Dinah schauderte, als sie dem Kreis ihre Blicke zuwarf. Das Bild der vergangenen Nacht tauchte wieder auf. Da hatte sie den Schatten des Tiers vor dem Mond gesehen. Jetzt überlegte sie, ob es tatsächlich ein großer Hund oder ein Wolf gewesen war.
So etwas war ihr noch nie begegnet, und sie hatte wirklich manche Nachtstunden den Mond angestarrt und sich sogar dorthin gewünscht, nur um ihrem Mann zu entfliehen.
Die Laute des Babys rissen Dinah aus ihren Gedanken. Es weinte nicht laut, aber einige Fahrgäste hörten das Geräusch schon und drehten sich um.
Das Weinen hatte auch die ältere Nachbarin aus ihrer Stummheit gerissen. Sofort war sie da und deutete auf das Kind. »Hören Sie, junge Frau, es hat Hunger. Es braucht etwas zu essen oder zu trinken.«
Beinahe böse schaute sie Dinah an.
»Ja, ich weiß.«
»Haben Sie denn keine Nahrung mitgenommen?«
Dinah fühlte sich in der Klemme. Auch der Blick dieser Person gefiel ihr nicht. »Ahm – im Moment nicht. Es ging schon alles ein wenig schnell…«
»Mutter!« Sie sprach das Wort böse aus und lachte auf. »Sie wollen eine Mutter sein?«
»Ja, ich…«
»Hören Sie doch auf! Sie sind keine Mutter. Sie sind – nein, mein Anstand verbietet mir, meine Gefühle in Worte zu fassen. Sie sind keine Mutter. Eine echte Mutter sorgt sich um ihr Kind. Bei Ihnen ist das anders. Das habe ich sofort erkannt, verdammt noch mal! Beim ersten Hinschauen.« Sie drehte den Kopf und schaute in das Gesicht des Babys. »Du tust mir jetzt schon leid, kleine Simone. Wirklich, du tust mir leid.«
»Es ist mein Kind!« flüsterte Dinah scharf.
»Ja, es ist Ihr Kind. Leider ist es Ihr Kind. Manchmal sind die Karten wirklich ungerecht verteilt. Aber das ist nun mal so auf unserer komischen Welt.« Die Frau fühlte sich wie eine Ersatzmutter, die das Kind trösten wollte. Sie beugte sich noch tiefer vor und versuchte, das Baby zu streicheln.
Der Finger berührte die Haut auch, und Simone hörte sofort auf zu weinen.
»Sehen Sie? So macht man das, Madam.«
»Aber Sie haben auch nichts zu essen…«
Die ältere Dame nickte. »Nichts zu essen – Trost braucht Ihr Kind ebenfalls.«
Sie streichelte das Baby weiterhin. Ihr Finger wanderte dem Mund entgegen, den Simone plötzlich aufriß und dann zubiß.
»Ahhh!« Ob der Schrei aus dem Schmerz oder mehr aus der Überraschung geboren war, wußte wohl niemand,
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