Mondpapier und Silberschwert (Die Sumpfloch-Saga) (German Edition)
oder schneller kämpfte als der Gegner, war Yu Kons Ansicht nach zweitrangig. Gewinnen konnte man auf Dauer nur mit der richtigen Einstellung. Sie war das Entscheidende und diese Einstellung sollten seine Schüler erlernen.
Die richtige Einstellung erlangte man, indem man sich um vollendete Aufmerksamkeit bemühte. Das klinge einfach, erklärte Yu Kon, sei jedoch sehr schwierig. Denn eine solche vollendete Aufmerksamkeit bringe nur ein Mensch zustande, der es schaffe, vollkommen ehrlich zu sich selbst zu sein.
„Belügt meinetwegen alle anderen! Aber belügt nicht euch selbst. Wer sich belügt, gibt dem Gegner alle Waffen in die Hand.“
Anfangs waren Lisandra diese Worte wie leeres Gerede vorgekommen. Der Meister gab sich auch keine große Mühe, diese wichtige Botschaft bildlich zu erklären oder anhand von Beispielen einleuchtender zu machen. Stattdessen fuhr er fort, seine Schüler zu überfordern, zu beschimpfen und zu bestrafen. Lisandra wurde schneller, weil sie es der Not gehorchend einfach lernen musste, um nicht alle zwei Stunden auf der Krankenstation zu landen. Sie wurde geschickter, ja, sie wurde auch viel aufmerksamer. Aber was hatte das mit Ehrlichkeit zu tun?
Als Yu Kon dann an einem Morgen nach sechs Wochen seinen Stock in den Schnee rammte und seine Schüler lange anstarrte, ohne etwas zu sagen, ahnte Lisandra, dass jetzt etwas Wichtiges kommen würde. Der Himmel war an diesem Morgen rein weiß und windstill. Hohe Mauern aus Schnee umgaben mittlerweile die Arena – so nannten Hanns, Haul und Lisandra den frei geschaufelten und platt getretenen Halbkreis im Schnee, in dem sie ihren Unterricht erhielten – und eine Stille lag über der Landschaft, als habe das Leben vergessen, dass es einmal andere, buntere Jahreszeiten gegeben hatte. Alles hier draußen schien zu schlafen oder zu ewigem Eis erstarrt zu sein.
„Was ist die größte Angst eines Kämpfers?“, fragte Yu Kon schließlich. „Haul?“
„Auf einen Gegner zu treffen, der ihm überlegen ist?“
„Nein. Hanns?“
„Vielleicht ist die größte Angst, dass das, wofür man kämpft, sich als falsch erweist?“
„Das ist besser, aber nicht richtig. Lisandra?“
„Meine größte Angst wäre, dass mein Gegner herausbekommt, wie wenig ich tatsächlich kann.“
Yu Kon hob die weißen Aug en brauen-Büsche, die seine Augen halb verdeckten.
„Das war eine brauchbare Antwort. Wenn auch noch nicht ganz richtig. Die richtige Antwort lautet: Die größte Angst eines Kämpfers ist, dass sich seine größte Schwäche gegen ihn richtet. Habt ihr das verstanden?“
Yu Kons Schüler nickten. Sie hätten auch genickt, wenn sie nichts verstanden hätten.
„Dann sagt mir jetzt, wie ein Kämpfer verhindern kann, dass sich seine größte Schwäche gegen ihn richtet. Lisandra?“
„Kann man das überhaupt verhindern?“
„Natürlich. Hanns?“
„Man sollte seine größte Schwäche vermutlich kennen.“
„Ja, das sollte man. Und weiter, Haul?“
„Tja, wenn man sie kennt, dann sollte man … vielleicht … einen großen Bogen darum machen?“
„Falsch! Was habe ich euch beigebracht? Was sollt ihr niemals tun?“
„Uns selbst belügen“, antwortete Lisandra.
„Wer seine größte Schwäche meidet, ist dazu verdammt, sich selbst anzulügen. Nein, ihr müsst eure größte Schwäche finden und ganz und gar in ihr verschwinden, bis nichts anderes mehr von euch übrig ist als diese lästige, schreckliche Schwäche. Nur wenn ihr darin untergeht, wenn ihr euch von eurer größten Schwäche verschlingen lasst, wird es euch gelingen, diese Schwäche in eure größte Stärke zu verwandeln. Darum geht es auf der Suche nach dem Silberschwert!“
Yu Kons Schüler hielten die Luft an. Das Silberschwert!
„Heute sollt ihr eure erste Lektion erhalten. Es ist die Lektion vom silbernen Raben!“
Der Meister senkte den Kopf und blickte noch ungemütlicher drein als sonst.
„Passt gut auf und verschwendet nicht meine wertvolle Unterstützung! Heute, und nur heute, werde ich euch auf unsichtbare Weise helfen, den silbernen Raben zu finden. Wer versagt, kann es ohne meine Hilfe versuchen. Doch wer den silbernen Raben bis zu dem Tag, an dem ich die zweite Lektion erteile, nicht gefunden hat, ist draußen!“
„Was heißt das genau? Draußen?“, fragte Lisandra halb ängstlich, halb hoffnungsvoll.
„Das heißt, dass ihr das Recht verwirkt habt, weiterhin meine Lehre vom Silberschwert zu erhalten. Ich werde euch immer noch unterrichten, aber
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