Mondpapier und Silberschwert (Die Sumpfloch-Saga) (German Edition)
die silbernen Lektionen bleiben euch dann verwehrt.“
Das war eine Drohung! Hanns, Haul und Lisandra wollten keinesfalls von der Lehre vom Silberschwert ausgeschlossen werden und jeder für sich war fest entschlossen, alles zu geben, um diesen silbernen Raben zu finden.
„Ihr werdet euch heute auf die Suche nach eurer größten Schwäche machen. Es ist ein Ort, den es zu finden gilt, den ihr aber nur finden werdet, wenn ihr euch eurer größten Schwäche bewusst werdet. Dazu ist vollkommene Ehrlichkeit euch selbst gegenüber unerlässlich! Jeder von euch sucht eine andere Schwäche und damit einen anderen Ort. Es wäre also sinnlos, einem anderen Schüler, der begabter ist als ihr, einfach zu folgen!“
Dabei schaute er Lisandra an, als hätte sie ernsthaft vorgehabt, hinter Hanns oder Haul herzuspionieren. Sehr gut kannte Yu Kon seine Schüler nicht!
„Wenn ihr an den Ort gelangt, den ich meine, wird euch der silberne Rabe begegnen. Prägt euch sein Aussehen ein und die Art, wie er sich verhält, damit ihr ihn jederzeit wiederfinden könnt. Geht jetzt los! Ihr habt Zeit bis zum Sonnenuntergang. Wenn ihr den silbernen Raben bis dahin nicht gefunden habt, werdet ihr ihn wahrscheinlich niemals finden!“
Yu Kon zog seinen Stock aus dem Schnee und ging fort. Seine Schüler blieben erst mal an Ort und Stelle stehen. Wohin sollten sie gehen, wo sollten sie zuerst suchen? Wie fand man seine größte Schwäche? Die Aufgabe wirkte reichlich schwierig.
„Also dann“, sagt Hanns nach einigen Minuten. „Ich versuche mein Glück. Bis später, Leute!“
Er winkte ihnen und stapfte in Richtung der Straße davon.
„Wollen wir erst mal zusammen losgehen?“, fragte Haul Lisandra. „Wir können uns dann immer noch trennen, wenn wir eine erste Spur entdeckt haben.“
Das war Lisandra sehr recht. Sie hätte jetzt bei m besten Willen nicht gewusst, wohin sie gehen oder was sie suchen sollte. Vielleicht half es, wenn sie sich mit Haul noch ein bisschen darüber austauschte.
„Gut, machen wir“, sagte sie. „Wohin zuerst?“
„Richtung Wald vielleicht?“
Lisandra nickte und lächelte. Es tat gut, Haul in der Nähe zu haben, wenn man auszog, um seine größte Schwäche zu finden.
„Bist du genauso ratlos wie ich?“, fragte Lisandra, als sie die kleine Brücke erreichten, die über das Gaulwasser führte. Das Gaulwasser war ein Bach oder Fluss, je nach Jahreszeit, der wie die Sümpfe rund um Sumpfloch von heißen Quellen gespeist wurde und daher auch jetzt im Winter nicht zugefroren war. Er schlängelte sich, tief eingegraben, durch die Schneemassen, und Dämpfe stiegen von ihm auf, deren Geruch dem Gewässer seinen Namen verliehen hatte: Sie rochen nach feuchtem Ackergaul.
Im Sommer führte die Brücke über das Gaulwasser zu einer großen Blumenwiese, die zwei sanfte Hügel bedeckte und bis an den Waldrand reichte. Jetzt war sie wie alles andere eine große, fast makellose Schneefläche, die nur von einem Trampelpfad durchbrochen wurde, der den Zweck hatte, die Straße von Mückelkranz mit dem Fußweg nach Gürkel zu verbinden, ohne dass die Fußgänger Schulgelände betreten mussten.
Sehr beliebt war der Trampelpfad gerade nicht. Seit dem letzten Schneefall war nur eine große Person auf diesem Weg gegangen – Lisandra und Haul erkannten es an den Fußspuren.
„Gespenster wie ich haben alle die gleiche größte Schwäche“, sagte Haul, während sie die Brücke überquerten. „Aber ich nehme an, das ist nicht die Schwäche, die Yu Kon gemeint hat. Ihm geht es wahrscheinlich um eine persönliche Schwäche. Etwas, das nicht so offensichtlich ist.“
„Was ist die größte Schwäche von Gespenstern wie euch?“
„Dass wir auf Magie angewiesen sind. Wir wurden von Zauberern ins Leben zurückgerufen und diese Zauberer müssen ihre Beschwörungen regelmäßig erneuern, sonst verschwinden wir wieder. Denn wir sind nur verfestigte Erinnerungen unserer selbst, denen auf magikalische Weise Leben eingehaucht worden ist.“
„Dann seid ihr auch nichts anderes als Maküle?“, fragte Lisandra erstaunt.
„So hat es noch niemand genannt“, erwiderte Haul mit einem traurigen Lächeln, „aber gut, wir sind vielleicht gar nicht so weit voneinander entfernt. Nur dass wir wirklich einmal gelebt haben. Diese Persönlichkeit, die wir hatten und jetzt wieder haben, ist echt und menschlich. Maküle haben nie gelebt. Sie wurden erschaffen und versuchen, uns Menschen nachzuahmen.“
Der Trampelpfad durch den Schnee war
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