Mondsplitter
ausgegebenen Befehle. Es war unheimlich! Selbst Bolling, der seit zwölf Jahren den Hafen betreute, hatte ihn noch nie so gänzlich verlassen erlebt.
Die Diligent war ein uralter Siebzig-Meter-Kutter und wurde von ihrer Crew liebevoll Dilly genannt. Stationiert war sie auf Governor’s Island. Während der frühen Abendstunden hatte sie den abgehenden Verkehr hinaus in den Long Island Sound geleitet. Jetzt fuhr sie in Begleitung ihres Schwesterschiffs Reliant auf dem East River nach Süden, eine letzte Patrouillenfahrt, ehe es durch die Narrows, die Meerenge zwischen Staten Island und Long Island, hinaus auf den Atlantik ging. Dort sollten die beiden Schiffe warten, bis vorgesetzte Dienststellen wußten, daß die Himmelsereignisse keine Gefahren für die überlasteten Wasserstraßen von New York und New Jersey bedeuteten.
Seit drei Tagen strömten die Schiffe jetzt schon auf den Atlantik hinaus, um nicht das Risiko einzugehen, daß sie von Flutwellen in Küstennähe erwischt wurden.
Bolling war Absolvent von Stanford, wo er im Hauptfach Geschichte belegt hatte. Er war im Umkreis von Schiffen aufgewachsen und mehr oder weniger aus Spaß in die Küstenwache eingetreten, um ein paar Jahre lang eine schöne Zeit zu haben, ehe er sich einen richtigen Job suchte. Auf der Akademie erwarb er das Offizierspatent, und er heiratete eine Hafenlotsin. Er mochte dieses Leben, genoß die Freiheiten, die es mit sich brachte, und wunderte sich jetzt, wie er je daran hatte denken können, in einem Büro zu arbeiten. Die Ehe hatte keinen Bestand gehabt: Zuviel unregelmäßige Arbeitszeit beider Partner, keine Kinder, die eine Bindung herstellten, und vielleicht zuviel Geld. Sie hielten jedoch Kontakt und blieben Freunde. Er wußte, daß seine Exfrau heute abend eine Autofähre durch die östlichen Wegmarken hindurch nach draußen geführt und beschlossen hatte, auf dem Schiff zu bleiben. Es fuhr die Küste entlang und sollte in Philadelphia, Charleston und Brunswick anlegen. Es lag jetzt jedoch mit der übrigen Handelsflotte ein gutes Stück vor der Küste und wartete ab, bis sich die Lage von selbst klärte.
»Ich habe meine Familie aus der Stadt geschickt«, erzählte Packard. »Sobald ich die Nachricht gehört hatte.«
Bolling kannte mehrere Leute, die das gleiche probiert, aber keinen freien Platz in irgendeinem Verkehrsmittel mehr erhalten hatten. Und noch mehr, die mit dem Auto aufgebrochen waren, es aber aufgegeben hatten und nach Hause zurückgekehrt waren. »Ich denke nicht, daß es ernst ist, Dan«, sagte er. »Aber es kann nie schaden, auf Nummer Sicher zu gehen.«
Es freute ihn aber, daß auch seine Ex hinausgefahren war.
Komisch, wie der Nachthimmel Ängste glaubhaft machte. Als Bolling sich heute nachmittag zum Dienst gemeldet und man damit begonnen hatte, die Einsatzpläne zu entwickeln, war ihm alles lächerlich erschienen. Die Sonne schien, es war warm, und alle schwärmten lachend von einem langen Ausflug auf den Atlantik. Jetzt, als die Billy und die Reliant an leeren Piers entlangfuhren, war das ein tödlich ernstes Gefühl.
Ein Schiff war landeinwärts unterwegs: die Kira Maru. Die Diligent überholte sie, als sie sich der Throgs Neck Bridge näherte. Die Akademie der Handelsmarine lag backbord, direkt hinter der Kings Point Road. Der Autoverkehr wirkte normal. Vielleicht sogar ein bißchen stark für einen Samstagabend.
Die Dilly war für alle Fälle mit medizinischen Vorräten beladen. Und führte ein paar Trinkwassertanks mit. Irgend jemand in der Kommandorangfolge nahm den Kometen ernst.
Der Himmel war etwa so klar, wie das in New York überhaupt ging. Komet und Mond waren am späten Nachmittag fast gleichzeitig aufgegangen. Sie standen jetzt am Himmel, von den Brückenpfeilern umrahmt, und Bolling konnte fast sehen, wie sie einander näherrückten. Er zog sich die Jacke fester um die Schultern. Um diese Jahreszeit waren die Nächte auf dem Fluß immer kalt.
Das Papier mit den Befehlen stecke zerknittert in der Jackentasche.
ACHTEN SIE AUF DIE SICHERHEIT DES SCHIFFES, WENN DAS WETTER SCHLECHT WIRD.
Eine seltsame Formulierung, fand er, wenn man bedachte, was genau die da oben fürchteten.
LEISTEN SIE IM BEDARFSFALL HILFE.
HALTEN SIE NACH 22 UHR STÄNDIG FUNKKONTAKT.
MELDEN SIE SOFORT ALLE UNGEWÖHNLICHEN HYDROLOGISCHEN ERSCHEINUNGEN.
Jetzt machte der dunkle Himmel der Whitestone Bridge Platz.
»Sieh mal«, sagte Packard und deutete nach vorn auf eine kleine Yachtenflottille, ein
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