Mondsplitter
Diesmal an der Westküste.«
County Route 6, südwestlich von San Francisco, 1 Uhr 19 Pazifische Sommerzeit (4 Uhr 19 Ostküsten-Sommerzeit)
Die Meldungen von den diversen Katastrophen aus dem ganzen Land verliehen den Fernsehsendungen eine Atmosphäre der Unwirklichkeit, verglich man sie mit der stillen Wildnis, in der die Familie Kapchik rastete. Es war, als sähen sie sich ein Weltuntergangsdrama an, das gleichzeitig auf allen Sendern lief. Der schimmernde Nebel, der an die Stelle des Mondes getreten war, lag nun selbst hinter einer Wolkendecke versteckt. Ein leichter Wind wehte aus Westen, und die Nacht war kühl und angenehm. Die Bergflanke, auf der sie kampierten, hatte sich mit Menschen gefüllt, die Essen, Kaffee und Alkohol miteinander teilten, erfüllt von einer Art Gemeinschaftsgeist, wie ihn nur gemeinschaftliche Gefahren hervorbrachten. Sie verfolgten die Fernsehbilder mit Bestürzung und Mitgefühl und redeten nicht über die seltsame heimliche Freude darüber, der Katastrophe entronnen zu sein, die so viele eingeholt hatte. Nach einer Weile schaltete Marisa ihr Gerät aus. Sie hatte es mit dem Schlafen aufgegeben und saß an einen Baum gelehnt. Sie hatte sich ein Wollhemd übergezogen. Die Augen fielen ihr zu. Sie roch Lagerfeuer und Kaffee. Viele Leute waren noch wach und unterhielten sich gedämpft. Jerry war mit den Kindern in einen Schlafsack gekrochen und schnarchte inzwischen leise. Auf der Straße fuhren Autos und Lastwagen weiter nach Osten.
Man hatte Flutwellen gemeldet, die sich Kalifornien näherten, aber niemand hatte ausdrücklich San Francisco erwähnt. Marisa dachte an ihr Haus in Pacifica und betete darum, es möge noch da sein, wenn die Familie zurückkehrte.
Abrupt hörte das Geflüster auf, und die Leute schnappten nach Luft. Ein Feuerball schoß über den Himmel und explodierte direkt über ihnen. Fragmente regneten herab. Es wurde hell über den Bergen, und nach wenigen Augenblicken hörte Marisa ein Prasseln wie von fernen Knallkörpern. Dann wurde die Welt wieder dunkel.
Jerry rührte sich zu keinem Zeitpunkt.
Jemand schloß eine Autotür.
Jerry wollte morgen nach Hause, falls nichts passierte, aber Marisa fand, daß Vorsicht geraten war. Am Morgen wollte sie vorschlagen, noch eine Nacht lang draußen zu bleiben, bis sie wirklich sicher waren.
Die Fläche, auf der die Kapchiks parkten, war randvoll. Weitere Fahrzeuge säumten die Straße. Ein Streifenwagen der Polizei stand unter ein paar Bäumen auf der anderen Seite des Highways. Er bot ein Gefühl der Sicherheit, eine Art Garantie, daß das Leben weiterging.
Marisa bemerkte, daß es ringsherum lebendig wurde. Aus dem Geflüster wurden Obszönitäten, und die Leute beugten sich näher an ihre Fernseher.
Sie setzte sich den Kopfhörer wieder auf und schaltete das eigene Gerät noch rechtzeitig ein, um zu hören, wie ein aufgeregter Reporter von dem Bemühen berichtete, Los Angeles zu evakuieren. Hunderte von Bussen, organisiert von Hilfsdiensten und dem Militär, versuchten drei Millionen Menschen auf höheren Grund zu bringen. Wolken aus Flugzeugen und Hubschraubern gingen auf privaten Flugplätzen und kleinen Gemeindeflughäfen nieder, um zu helfen. Drei Millionen!
Eine zweite Reportage aus einem örtlichen Nachrichtenhubschrauber schilderte die Zustände auf den Highways. Der Verkehr kroch nur noch.
Gott helfe ihnen.
Dann fiel Marisa auf, daß nicht nur über Los Angeles geredet wurde. Die ganze Westküste entlang herrschte der Notstand, von Astoria im Norden bis Niederkalifornien im Süden. Überall versuchte die in Panik geratene Bevölkerung, höheren Grund zu erreichen, auf Berggipfel zu klettern, in Wolkenkratzer einzubrechen, was immer sich ihnen bot.
Es mußte das reinste Chaos sein.
Aus manchen Gegenden wurde gemeldet, daß Leute Brücken sprengten und Highways blockierten, um die Flüchtlingsflut aufzuhalten. Lisa Monroe von CBS befragte einen Mann, der für eine ganze Gemeinde zu sprechen vorgab und für sie das Recht in Anspruch nahm, das Stadtgebiet gegen die ›Horden aus San Francisco‹ zu verteidigen.
»Sie überrennen uns«, sagte er. »Sehen Sie sich nur um. Sie werden alle auf diesem Berg sitzen wollen. Wo sollen wir alle unterbringen? Der Platz reicht nicht. Die Lebensmittel nicht. Das Wasser nicht.« Er redete mit der präzisen Artikulation eines Schauspielers. Ein Profi der einen oder anderen Art, erkannte Marisa. »Ja, und deshalb haben wir einen Sattelschlepper auf die
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