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Mondsplitter

Mondsplitter

Titel: Mondsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack McDevitt
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konnte die Erklärung des Präsidenten fast hören: Charlie, wir hätten gleich die Evakuierung einleiten müssen. Wir haben uns zu viele Sorgen darüber gemacht, wie wir die Leute in der Fremde ernähren können. Wir waren über Verkehrsstaus besorgt, um Gottes willen! Sie hatten also falsch gedacht, und eine Menge Leute waren umgekommen.
    Charlie wußte allerdings: Wäre er dort unten gewesen, hätte er keine Einwände gegen diese Handlungsweise gehabt. Er hätte mitgemacht, überzeugt, das Richtige zu tun.
    Für einige Augenblicke spürte er die Verantwortung des Amtes. Zum ersten Mal in seiner ganzen politischen Karriere fragte er sich jetzt, ob er wirklich Präsident der Vereinigten Staaten werden wollte. Plötzlich war das eine dunkle und furchterregende Aussicht. Wenn er zu Hause war und sich alles wieder beruhigt hatte, wollte er noch mal über alles nachdenken. Vielleicht die Kandidatur zurückziehen. Er hatte nicht wirklich Angst vor dem Amt, mußte aber die eigenen Grenzen anerkennen. Der nächste Präsident stand einer verwüsteten Nation vor. Die schlichte Wahrheit lautete, daß dafür jemand gebraucht wurde, der besser war als Charlie Haskell. Charlie wäre in guten Zeiten vielleicht okay gewesen, aber die Vereinigten Staaten waren einer monumentalen Katastrophe zum Opfer gefallen. Die Nation brauchte einen Lincoln. Oder einen Teddy Roosevelt.
    Wo zum Teufel wollte sie einen finden?
    Kaum hatte Kerr die Verbindung unterbrochen, tauchte Saber wieder vor der Luftschleuse auf. Sie schien mit sich zufrieden, und Charlie freute sich für sie. »Es geht doch nichts über Universalklebeband«, verkündete die Pilotin. Und dann betrachtete sie Charlie, der angeschnallt dasaß, den Sitz zurückgeklappt. »Sie sehen nicht allzu gut aus.« Sie wollte ihm etwas geben, was ihm einzuschlafen half, aber Charlie lehnte ab. Jedenfalls nicht in dieser Nacht. Als ob er irgendwas hätte tun können, um zu helfen.
    »Wie schlimm sehe ich denn aus?« fragte er Evelyn, nachdem Saber aufs Flugdeck zurückgekehrt war.
    »Als ob du dich geprügelt hättest. Und verloren hättest.« Sie hielt einen Spiegel hoch. Sein Gesicht war blutunterlaufen, und er hatte zwei blaue Augen.
    »Viele Menschen sind heute nacht gestorben.«
    Sie nickte. »Wir haben davon gehört.«
    Er schwebte zwischen Erschöpfung und Grauen.
    Und weitere schlechte Nachrichten trafen ein. Saber rief Evelyn aufs Flugdeck. Als sie zurückkam, gab sie bekannt, daß man keine Verbindung zu dem früheren Flug mehr hatte herstellen können. Er galt als mit einhundertein Passagieren und drei Besatzungsmitgliedern verloren.
    Sie alle dachten darüber nach, gingen die Namen von Freunden und Kollegen durch, versuchten sich zu erinnern, wer für welchen Flug eingeteilt worden war.
    Einhundertvier Menschen. Das war sehr wenig verglichen mit der enormen Zahl derer, die auf der Erde umgekommen waren. Aber es verlieh dem Verlust Gesichter. Rick und Sam und Gott wußte wer sonst noch und eine Million weitere.
    Es war die finsterste Nacht der Menschheitsgeschichte.
     
     
Manhattan, 4 Uhr 01
     
    Larry stand neben Marilyn, blickte über die Dächer hinweg und hinunter auf das neue Meer. Manhattan hatte sich in eine Gruppe Betoninseln verwandelt. Die Stadt lag im Dunkeln. Der zertrümmerte Mond war schon lange untergegangen. »Verdammte Regierung«, sagte er. »Sie hat behauptet, wir bräuchten uns keine Sorgen zu machen.«
    Jemand leuchtete mit einer Taschenlampe über die Dachkante. Der Lichtschein hüpfte im Wasser auf und ab. Leichen schwammen darin.
    Marilyn wandte sich ab. Sie konnte nicht schlafen und hatte sich schließlich wieder zu der stillen Gruppe gesellt, die sich um ein batteriebetriebenes Radio versammelt hatte. Die Terrassentüren standen offen, und die Vorhänge bewegten sich in einer Brise. Ungefähr dreißig Personen waren immer noch da. Ein paar schliefen, die am frühen Abend zuviel getrunken hatten. Die anderen wirkten lustlos und verängstigt.
    Marilyn hatte Verwandte in Boston und Freunde auf den Outer Banks. Sie hatte versucht, sie anzurufen, aber bis ungefähr drei Uhr nur Besetztzeichen und automatische Durchsagen zu hören bekommen (»Der von Ihnen gewünschte Anschluß ist zur Zeit wegen Wartungsarbeiten …«). Jetzt war das Telefon völlig tot.
    Die Zimmer wurden mit Kerzen beleuchtet. »Ich frage mich, wie es wohl bei uns aussieht«, sagte Marilyn zu Larry. Ihre Wohnung lag im zweiten Obergeschoß, einem hochgelegenen zweiten Obergeschoß, und

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