Mondsplitter
Grunde nicht. Sie hatte alle selbstgesteckten Ziele erreicht und bei zwei Versuchen einen guten Ehemann gefunden – kein schlechter Schnitt. Durch ihre Leistungen hatte sie die Lage ihrer Landsleute gebessert. Sie übte die Art Macht aus, von der die meisten Menschen nur träumen konnten. Und sie hatte sogar einen ansehnlichen Beitrag dazu geleistet, die Menschheit auf die Straße zu den Sternen zu führen.
Was fehlte ihr?
Wieso hatte es ihr eine grausame Befriedigung vermittelt, vor den Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten zu treten und ihm ihre charakterliche Überlegenheit zu demonstrieren? Sein Unbehagen mitzuerleben? War sie des eigenen Wertes so unsicher?
Sie hatte keinen Streit mit Charlie Haskell.
Mehrere Techniker in Mondbasis-Overalls kamen eine der Rampen herauf und schlenderten einen Fußweg entlang Richtung Verwaltungsgebäude. Einer von ihnen erkannte Evelyn und lächelte.
Vielleicht, überlegte sie, muß es so sein, wenn man ohne Vorwarnung einen Punkt erreicht, von dem aus das Leben nur noch Stunden zählt, ohne daß man schon bereit ist, aus dem Tageslicht zu scheiden. Vielleicht bedeutet es dann gar nichts, wer man ist und was man vollbracht hat.
Evelyn, die erst in den späten Dreißigern war, hatte schon mehr schiere Freude und Zufriedenheit über ihre Leistungen empfunden, als irgend jemand realistisch erwarten kann. Vielleicht konnte sie deshalb die Tränen nicht zurückhalten, als sie kamen.
Mondbasis, Konferenzraum des Direktors, 6 Uhr 55
Als Direktor der Mondbasis übte Jack Chandler noch eine zweite Funktion aus: Er stand auch der Management-Abteilung vor, zu der Verwaltung, Personal, Finanzen, Sicherheitsdienst, Ausrüstung, Bildung und Öffentlichkeitsarbeit gehörten. Es gab zwei weitere Abteilungen: Gesundheit und Sicherheit sowie Technischer Dienst, zu denen jeweils eigene Unterabteilungen zählten.
Seit dem Gespräch mit Caparatti hatte er nicht geschlafen, und seine Augen waren trüb, die Sinne abgestumpft.
Das Adrenalin strömte jedoch weiterhin, und er spürte, wie das Herz hämmerte, als sein Blick über die neunzehn Gesichter seiner stellvertretenden Abteilungsleiter und Direktoren der Unterabteilungen schweifte. Er hatte Kaffee und Brötchen ausgegeben, war schon von einem zum anderen gegangen und hatte Schlüsselfiguren durch sein Auftreten vorgewarnt, daß die Neuigkeiten schlecht waren. Um sieben trat er endlich ans Rednerpult. Es wurde still im Raum. Seine Privatsekretärin schlüpfte herein und brachte eine Handvoll Papiere mit.
»Meine Damen und Herren«, sagte er, »wie Sie wahrscheinlich wissen, hatten wir gestern abend ein Problem. Einer der Busse hatte Verspätung und zerstörte dadurch den Plan. Es hat jetzt den Anschein, daß wir nicht alle Personen vor dem Einschlag evakuieren können.«
Sie hatten es kommen sehen. Es war unmöglich gewesen, die Information geheimzuhalten. Trotzdem führte die offizielle Bestätigung einen Augenblick der Erstarrung herbei. Chandler hörte dem leisen Summen der Ventilation zu. Da war die Direktorin der Finanz-Unterabteilung, die dünnen, müden Wangen auf einmal blutleer; und der Abteilungsleiter des Technischen Dienstes, der auf den Tisch starrte; der Chef der Öffentlichkeitsarbeit, der nickte, als hätte Jack gerade eine bewundernswerte Strategie umrissen. Jeder versuchte auf eigene Art, die Realität auf Armeslänge zu halten.
Die individuellen Schattierungen des Schocks verwandelten sich in Bestürzung. »Wir haben den Evakuierungsplan ein wenig justiert«, fuhr Jack fort, »und jeder von Ihnen erhält eine Kopie, wenn Sie gleich wieder gehen. Das Führungspersonal bleibt zurück, bis alle anderen evakuiert wurden. Es sieht jetzt so aus, als müßten sechs Personen den Einschlag auf der Mondbasis durchstehen. Wir beladen jeden Bus bis zum Maximum und organisieren die kürzestmöglichen Flugzeiten. Es tut mir leid, daß es so gekommen ist. Ich weiß ehrlich nicht, wie wir eine solche Eventualität hätten vorhersehen und Vorkehrungen dafür treffen sollen.
Falls Ihr Name zu den letzten sechs gehört, bleiben Sie bitte noch ein paar Minuten hier. Die übrigen lassen sich bitte ihre Abflugzeiten von der Verkehrsleitung bestätigen. Wer seinen Flug versäumt, bleibt zurück.« Er stand kurz vor den Tränen. »Ich danke Ihnen.« Er hätte gern noch mehr gesagt, traute aber der eigenen Stimme nicht.
Sein eigener Name und der Evelyns standen ganz unten auf der Liste. Die übrigen vier waren Angela
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