Mondsplitter
Gestalten belegten die Plätze vor Rick. Eine trug einen schwarzen Wollpullover zum Schutz vor dem Wind im offenen Fahrzeug. Der Mann redete konzentriert, aber Rick verstand nur ein Wort: Kaplan.
Die Straßenbahn fuhr in einen dichten Wald hinein. Rick rückte ein Stück näher heran.
»Bist du sicher?«
»Ja. Ich habe einen Blick auf die Liste geworfen, ehe ich herüberkam. Kanntest du ihn?« Beide Gesprächspartner trugen Brillen, und beide waren ordentlich frisiert.
»Nur aus dem Bridge-Club.«
Rick erinnerte sich an den nervös wirkenden Mann auf der Rednertribüne und fragte sich, warum sie in der Vergangenheitsform von ihm sprachen.
Eine gut gelungene Simulation von Sonnenlicht sickerte durch das Blätterdach. Es roch nach Frühling.
Rick beugte sich vor. »Verzeihen Sie«, sagte er. »Ist ihm etwas passiert?«
Beide Männer drehten sich um. »Wem?«
»Dem Kaplan.«
»Er bleibt zurück«, sagte der Mann im Pullover.
Vögel sangen, und ein Backenhörnchen stand auf einem Baumstamm und betrachtete die vorbeifahrende Bahn. Die beiden Männer nahmen ihr Gespräch wieder auf. Und Rick fand die Nachricht beunruhigend.
Die Straßenbahn fuhr in einen Tunnel. Die Lichter sprangen an, und Schatten rasten über die Wände. Nach ein paar Minuten ging es um eine Kurve, und die Bahn wurde langsamer. Die Stimmaufzeichnung informierte sie, daß das Fahrzeug jeden Augenblick anhielt.
Rick lehnte sich zurück.
»Du bist für nichts davon verantwortlich, Monica.« Eine weibliche Stimme hinter ihm, heiser, zornig. »Du bist genau wie ich! Wir sind Angestellte unterer Kategorie. Wir stecken unsere Gehaltsschecks ein und tun unsere Arbeit. Für so was sind wir aber nie bezahlt worden. Es ist nicht unsere Aufgabe.«
»Wessen dann?«
»Von Leuten wie Hampton. Sieh mal, die Manager der Welt kassieren das Geld, geben alle Befehle, kriegen alle Privilegien, und wenn dann die dicke Scheiße kommt, liegt es auch an ihnen, sich damit herumzuschlagen. An ihnen. Nicht an dir. Nicht an mir.«
Die Bahn bremste ab. Sie hielt an, schaukelte sachte von einer Seite auf die andere, senkte sich auf einen Bahnsteig und kam zur Ruhe. Leise zischend öffneten sich die Türen.
»Möchtest du hinunterfahren und dich melden? Ich bin sicher, daß sie dich mit Begeisterung nehmen würden«, sagte die heisere Stimme.
Rick betrachtete die beiden Frauen, als sie ausstiegen. Beide waren in den Zwanzigern. Beide attraktiv. Eine schwarz, eine weiß.
»Vergiß nur nicht«, sagte die Schwarze, »tot bleibt man dann immer.«
Die Fahrgäste stiegen aus und fuhren mit einer Rolltreppe auf ein höheres Stockwerk. Dort folgten sie einem Gang und teilten sich auf Wartezonen auf, die mit GELB und GRÜN gekennzeichnet waren. Auf Ricks Bordkarte stand GRÜN.
Die Startflächen waren durch Plexiglaswände sichtbar. Der Mikrobus kauerte in einem Netz aus Versorgungsschläuchen und Kontrollapparaturen. Dampfstrahlen entwichen aus seinem Bauch. Techniker kletterten auf ihm herum und hakten Checklisten auf ihren Notizblöcken ab. Rick hörte ein Rauschen aus der Rundspruchanlage, gefolgt von einer Stimme: »Die Passagiere auf dem gelben Flug können jetzt einsteigen. Der grüne Flug hat etwa zehn Minuten Verspätung.«
Ein paar Menschen standen auf, verabschiedeten sich und gingen durch eine Tür.
Der Vizepräsident der Vereinigten Staaten stand etwas seitlich von einem Service-Schalter. Er wirkte verloren. Rick sah Sam Anderson an, der ein mürrisches Gesicht machte und die Achseln zuckte. Rick hatte das Gefühl, in einer dieser alternativen Wirklichkeiten zu leben, die im Kino so populär waren.
»Bist du okay, Charlie?« fragte er.
Charlie schüttelte sich. »Yeah«, sagte er. »Mir geht es gut.«
Rick brachte ein Blatt Papier zum Vorschein. »Ich habe eine Stellungnahme für dich entworfen. Ich denke, wir sollten sie herausgeben, sobald wir in der Maschine sitzen.«
Charlie warf einen Blick darauf, schien den Text aber nicht zu lesen.
»Dort steht einfach, daß du nur unter Protest abreist, daß du lieber bleiben würdest, der Präsident jedoch auf deiner sofortigen Rückkehr besteht, daß du keine Alternative siehst und so weiter.«
»Gut.« Haskell schien über Nacht gealtert zu sein. Ein paar Leute traten auf ihn zu und baten, ihm die Hand schütteln zu dürfen. Freut uns, Sie zu sehen, Herr Vizepräsident, sagten sie, und: Viel Glück bei den Vorwahlen. Für sie war es nicht selbstverständlich, daß er nominiert werden würde. Als sie gingen,
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