Mondtaenzerin
seine innere Kammer zeigt, aus der alles entspringt. Wir liebten uns in Verzweiflung und Gier, und immer am Rande der Tränen. Die Wirklichkeit schien so fern, und alles war Magie, als ob jede Pore flüsternd funkelte. Konnte Liebe so wonnevoll, so restlos sein, konnte Leidenschaft sich immer wieder neu entfachen, nur weil das Imaginäre hinzukam? Wo Liebe nach innen dringt, tilgt sie das Nichts in uns, überspringt den Abgrund. Und nur das Bewusstsein eines unausweichlichen Endes gibt dieser Liebe so viel Kraft.
Das zu erleben, war eine Wohltat, ein Geschenk. In Stunden wie diesen sind tausend Nächte lebendig. Dass Giovanni andere Frauen gehabt hatte und viel bei ihnen gelernt hatte, war klar. Aber ich fragte ihn nicht nach diesen Frauen, sie waren unbedeutend. Wir wollten nicht schlafen, es war unsinnig, so viel Zeit mit Schlafen zu verschwenden! Doch die Zeit konnten wir nicht aufhalten; der Verzückung folgte unweigerlich die Müdigkeit. Mattigkeit sickerte ein, wir schliefen, obwohl wir nicht schlafen wollten, als ob unsere Liebe nicht bald verwehen, sondern für immer und ewig gegenwärtig sein würde. Und dann, irgendwann im Schlaf, hörte ich Kenza miauen. Ich schlug verwirrt die Augen auf, sah die Dämmerung ihre Schleier vor dem Fenster weben, silbergrau, mit Rosa durchglüht.
»Giovanni?«, rief ich leise.
Alles blieb still. Ich hörte nur das dunkle Rascheln der Morgenfrühe, schon war der erste Vogelschwarm in einem Baum. Meine tastenden Hände fanden nichts, nur das zerwühlte Laken. Giovanni war fort. War er jemals bei mir gewesen?
36. Kapitel
I ch rollte mich zusammen, zog das Laken, auf dem er gelegen hatte, fest an mich, wühlte mein Gesicht in den zerknitterten Stoff, fand seinen Geruch wieder, diesen aufwühlenden Geruch nach Leder, Holzkohle und Orangenblüte, der mich noch in der Erinnerung besessen machte vor Verlangen. Der Hitzegrad dessen, was man Liebe nennt, schien stark genug, um alle Bestandteile vollkommen zu schmelzen. Noch immer floss Zauber durch meine halbwache Welt. Doch Kenza miaute stärker, forderte ihr Recht. Ich warf mein Haar aus dem Gesicht, richtete mich mühsam auf, stellte meine Füße auf die kalten Fliesen. Ich taumelte in die Küche, schüttete Katzenfutter und frisches Wasser in die Schälchen, stellte sie vor Kenza auf den Boden. Als ich mich umwandte, sah ich den Zettel auf dem Tisch. Mit dem Blatt Papier, das Giovanni von meinem Schreibblock abgerissen hatte, trat ich näher ans Fenster heran und las die hastig hingekritzelten Zeilen.
»Alessa, warte nicht auf mich. Ich komme, sobald ich kann, zu dir.« Das war alles. Nicht ein Wort mehr, soviel ich auch daraufstarrte. Dann sah ich auf die Uhr. Halb sieben. Um neun warteten Touristen im Hotel Phoenicia auf mich, ich musste zuerst ins Büro, wo der Chauffeur mich abholen würde. Ich wankte unter die Dusche, wusch mich ausgiebig, zuerst heiß, dann kalt, wusch auch mein Haar mit einem Shampoo, das nach Pinien duftete. Inzwischen lief die Kaffeemaschine, ich goss Milch über Cornflakes, frühstückte ausgiebig. Ich brauchte jetzt Kraft, musste ein freundliches Gesicht
zeigen, Worte aussprechen, die nichts mit mir zu tun hatten. »Nimm dich zusammen, Alessa!« Giovanni war hier gewesen. Mit einem Mal befiel mich eine Lähmung, eine zermürbende Schwere in den Gliedern. Alles in allem war es nur eine Art von Irrtum und Abenteuer gewesen, nur ein Hauch aus der Erinnerung, vom Schicksal herangetragen. Glück, Schmerz, Lachen, Stillsein, Herzklopfen und hohe Seligkeit, hatte ich das alles nur geträumt? Nein, Giovanni war wirklich hier gewesen. Wie viel war dies schon! Aber es war nicht genug. Ich wollte mehr. Nicht viel, nein, nur noch ein bisschen mehr. Denn wir hatten nur wenig Zeit gehabt, zu wenig Zeit, um alle Zeichen des Schmerzes, des Fragens zu tilgen. Und auch diese Zeit war schon ausgelöscht. Noch während wir uns liebten, rann die Zeit vorbei. Es war ja unnötig, sich darüber Gedanken zu machen. Er war nur vorübergehend da, aber für uns wurde ein Teil unseres Lebens daraus. Wir glauben, erfahren zu haben, wie lange genau die Zeit dauert, wie sie manchmal dahinjagt und dann wieder träge sickert. Aber dann kommt dieses Unheimliche, Unvorhergesehene hinzu; die Zeit wird plötzlich zur Urform. Für Giovanni und mich blieb die Welt dort stehen, wo wir sie zum ersten Mal bewusst erlebt hatten. Kein Tag würde nie anbrechen, keine Nacht nie enden. Der Mensch ist ein einsamer Träger von Zeitschichten, die
Weitere Kostenlose Bücher