Mondtaenzerin
Tagträume und ähnliche zerrissen die Räume vorbildlicher Ordnung, in denen er sich zu bewegen hatte. Später erzählte er mir einiges davon, verwundert darüber, dass ich überhaupt zuhörte. Was Mitteilsamkeit betrifft, stand es schlecht um Peter. Er hatte immer das Gefühl, dass man ihn nicht ernst nahm. Seine Tagträume, die er als schlüpfrig empfand, waren einfach nur unschuldig und romantisch. So war es in einem dieser Tagträume er selbst, und nicht ich, der Giovanni aus der Zisterne
rettete und in seinen Armen barg. Oh, wie gerne wollte er das glauben, sagte Peter, verlegen auflachend, aber leider hatte er ja nur die Leiter geholt. Und er hatte Giovanni zwar auf dem Rücken getragen, sich Muskelkater dabei geholt, aber wachgeküsst hatte er ihn nicht. Auch das hatte ich getan. Ungeachtet seiner Eifersucht bewunderte Peter mich rückhaltlos, ja, er fand mich anziehender und klüger als andere Mädchen, die vielleicht hübscher waren, aber weniger oder überhaupt nicht mutig.
Und als Peter merkte, dass er an mich wie an einen Jungen dachte und an Giovanni wie an ein Mädchen, geriet seine Welt definitiv in Verwirrung. In seinem geistigen Panoptikum spielte sich etwas ab, das nicht sein durfte. Etwas, das ihn furchtbar elend machte. Erst im Nachhinein erzählte mir Peter, wie oft er dabei das Gefühl gehabt hatte, etwas Heimliches, Verbotenes empfunden zu haben. Und nur seine pedantische Wahrheitsliebe machte, dass er überhaupt davon sprach. So enorm umständlich seine Erklärungen auch waren, konnte ich mir im Geiste sehr wohl ein Bild von dem ganzen Vorgang machen, konnte sogar den Trotz und die Isolierung nachempfinden, die er in dieser Zeit gehabt haben musste: einer gegen alle. Aber damals hatte ich von alldem keine Ahnung.
Nachträglich, aus dem Blickpunkt der Erwachsenen, weiß ich, dass auch ich die flimmernden Bilder von einst nicht verleugnen kann. Mit dem Unterschied, dass bei mir das wahrhaft Erlebte irgendwelche Fantasien weit überstieg. Wie oft war es später vorgekommen, dass mich meine Schritte ganz von selbst zu den Felsen trugen, die Giovanni und mir einst als Schlupfwinkel dienten. In diesen Felsen gab es Löcher, mehr oder weniger tief, die das Meer im Laufe der Jahrhunderte geformt hatte. Ich kannte dort eine ganz bestimmte Höhle, gesprenkelt mit Möwenkot, die innen trocken war, denn das Meer hatte seit Langem nicht mehr von ihr Besitz genommen. Bis in Hüfthöhe wuchsen Sträucher vor dem Eingang, es roch nach
verwesten Algen, und über die Steine huschten klebrige Lichtflecken. Ich betrat sie gebückt, mit einer schmerzlichen Sehnsucht im Herzen, als ob die Höhle mit eigener Einbildungskraft die Erinnerung an Giovanni und mich wie ein Nachbild bewahrt hätte. Es war ja noch da, dieses wunderbare grüne Licht, das aus der Tiefe der Landschaft kam und sich in unseren Seelen widerspiegelte. Jedes Mal, wenn ich in die Höhle kam, wanderten meine Blicke empor, fanden, was sie suchten: die rote Spirale am unteren Rand des Deckengewölbes, das Zeichen Perseas, halb verwischt zwar, aber noch nicht weg, noch nicht verloren. Hier mochten unsere Vorfahren – die Hirten, die Fischer – der Göttin kleine Opfer gebracht haben. Jedes Mal betrachtete ich die Spirale, betrachtete sie lange. Mir war, als zöge die Spirale an meinen Augen vorbei, drehte sie sich unentwegt in Raum und Zeit. Sie zeigte ein Fortschreiten der Kraft, den ewigen Zyklus des Lebens. Zu meinen Erinnerungen hatte ich nur noch einen geisterhaften und subjektiven Zugang. In dieser Höhle fand ich welche wieder, aufbewahrt in einzelnen Bildern. Meine Erinnerungen konnte ich zurückholen, konnte sie aber nicht dem Werden und dem Zerfall entreißen, die Spirale sagte mir, das sei ganz und gar unmöglich. Und die Frau, die ich geworden war, stand vor diesem Zeichen und wusste, dass nichts mehr wie früher sein konnte. Nichts, was einmal gewesen ist, kommt wieder. Und kommt es wieder, kommt es in einer anderen Form.
»Es ist schlecht«, hatte ich damals zu Giovanni gesagt.
Er hatte leise geantwortet:
»Ja, ich weiß.«
Don Antonino und unsere Lehrer hatten gute Arbeit geleistet: Seine Sprache hatte fast völlig jenen Dialektklang verloren, der ihn zu dem stempelte, was er nicht mehr war.
»Aber ich möchte es so gerne mit dir machen«, setzte er hinzu.
»Hast du es schon mit einem Mädchen gemacht?«
Er hatte leise gelacht.
»Nein, so richtig niemals.«
»Vivi?«, fragte ich.
Wir lachten – und wie wir lachten.
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