Mondtaenzerin
Stich lassen, und mit meinem Vater komme ich schon zurecht. Wir können auch nach Italien gehen oder zu meinen Großeltern nach Deutschland. Da findest du bestimmt Arbeit. Da sind die Leute nicht so spießig wie hier.«
Träume, Träume! Halbwüchsige haben nur ein vages Gefühl für die wahren Dinge des Lebens. Sie vertrauen ihrer Stärke; wovor könnten sie Angst haben? Sie haben die Begeisterung der Vögel, die singen und der Schönheit des Tages Flügel schenken. Der Wind, Rennbahn der Falken, tanzte über unsere Liebe und unsere Illusionen.
Ach, wie kann ich den Zauber dieses Sommers vergessen, als wir noch glaubten, dass die Welt uns gehörte und dass wir sie verändern konnten?
Obwohl Giovanni keine Uhr trug, wusste er immer, welche Zeit es war; er wusste es fast auf die Minute genau, wie eine Katze, die sich bei ihren täglichen Streifzügen am Sonnenlicht orientiert. »Ich muss gehen«, sagte er, traurig, aber entschlossen, weil sein Onkel ihn zurückerwartete und er im Augenblick noch keinen Verdacht erwecken wollte. Wir küssten uns ein letztes Mal, dann kletterte er schnell den Hang hinauf, ohne dass es ihn die geringste Anstrengung gekostet hätte. Ich starrte ihm nach, solange er sichtbar war, kleiner und kleiner wurde, bis er, von einem Atemzug zum nächsten, hinter den Steinen verschwand. Und es war immer der gleiche Schmerz, wenn ich ihn nicht mehr im Blickfeld hatte, dieses Gefühl der Einsamkeit, ein klaffendes Loch in der Luft.
21. Kapitel
I ch habe, nachdem die Jahre vergangen sind, einen seltsamen Zugang zu unserer Geschichte. Denn jeder von uns erlebte sie ja in einem anderen Licht. Und immer wieder gerieten wir in Verlegenheit, weil mit der Zeit von der Erinnerung nur verschwommene Bilder blieben. Doch sprachen wir darüber, stellte Verlorenes sich wieder her, ein Neubeginn vielleicht, zu dem man Gewonnenes hin retten kann. Das verlangt Ehrlichkeit. Und um die bemühten wir uns im Nachhinein, schafften es aber nicht ganz. Wir erinnerten uns so sachlich wie möglich, schufen aber, ohne es eigentlich zu wollen, Variationen und Fantasien dazu.
Ich muss zunächst von Vivi erzählen. Das Ende der Schulferien wurde auch für sie eine Zeit der Erneuerung, der Beginn einer Metamorphose. Ein besonderer Rhythmus prägte diesen Spätsommer wie ein unsichtbares Meer, das in großen Wogen über uns rollte, jeden von uns in eine andere Richtung trieb. Wir hatten diese Flut nicht kommen sehen. Die Ferien, die Hitze, unsere wirren Gefühle hatten uns in eine Art Apathie versetzt. Nun aber ging der Sommer zur Neige. Das Licht verlor seine brutale Helle, wurde sanft, orange wie Fruchtfleisch, und trug schon in der Wärme einen Vorgeschmack nach Herbst. Noch ein paar Tage, und die Schule fing an. »Du brauchst neue Schuhe«, hatte Mutter an jenem Morgen gesagt, die sehr darauf achtete, dass ich keine verkrüppelten Zehen bekam. Turnschuhe wurden im Unterricht nicht geduldet, Schnürschuhe und weiße Kniestrümpfe waren Vorschrift.
Uniformzwang, wie ich das hasste! Ich war im Badezimmer und wusch mir die Haare, als das Telefon läutete und Mutter mit dem Hörer in der Hand erschien.
»Für dich.«
Es war Vivi, die aus London zurück war. Ich warf schnell ein Handtuch über meinen Kopf. Ich war glücklich, sie zu hören.
»Wann bist du angekommen?«
»Vor drei Tagen. Aber ich gehe morgen wieder zurück.«
Ich traute meinen Ohren nicht.
»Und die Schule?«
»Die kann meinetwegen abbrennen. Ich gehe in London zur Schule. Grandpa hat mich schon angemeldet. Ich erzähle dir alles. Können wir uns sehen?«
Mein Haar war noch so nass, dass mir das Wasser in die Augen lief. »Um elf, geht das?«
»Wir essen um eins und gehen dann in die Stadt«, mahnte mich Mutter, als ich mir bei ihr den Föhn auslieh.
Es gelang mir gerade noch rechtzeitig, den Bus zu erwischen. Ich war gespannt auf Vivi und gleichzeitig sehr verunsichert. Aus Vivi wurde ja keiner klug. Niemals konnte man wissen, was ihr durch den Kopf ging. Vivi, die so dreist, so schalkhaft, so bestürzend frühreif war und mit dem spöttischrätselhaften Lächeln einer Elfe haarsträubende Geschichten erzählte. Vivi, die nie still stand, nie still saß, deren Augen manchmal mit einem wachsamen, gefährlichen Ausdruck zur Seite blickten oder sich weiteten und wie Opale glänzten. Sie, die Mondtänzerin, machte mit uns, was sie wollte, führte uns an der Nase herum, hielt stets glatt und geschickt das Spiel in Gang.
Wir hatten uns im Café Cordina
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