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Mondtaenzerin

Mondtaenzerin

Titel: Mondtaenzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederica de Cesco
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liegendes Ziel in die Gegenwart versetzen.«
    Viviane trank einen Schluck Cola und wippte mit dem Fuß. Die Ähnlichkeit sah sie wohl nicht: Miranda tat es auch. Womöglich war es unwichtig. Doch es schien, dass Viviane – wie so oft – ahnte, was in mir vorging. Sie beugte sich vor und senkte die Stimme.
    »Alessa, ich kenne jetzt Mirandas Geschichte. Und es
ist eine ganz schlimme Geschichte. Versuche das zu glauben, bitte. Aber ich kann nicht darüber reden. Nicht, solange Grandpa am Leben ist. Das habe ich ihm ganz fest versprochen.«
    »Es ist ja auch nicht wichtig, dass ich die Geschichte kenne«, sagte ich. Dabei schielte ich erwartungsvoll zu ihr hin. In Wirklichkeit platzte ich vor Neugier.
    Viviane machte es gern spannend. Aber diesmal ließ sie mich im Stich. Mit ihrem Strohhalm drückte sie heftig auf die Zitrone im ihrer Cola. Ich sah, wie ihre feingliedrige Hand leicht zitterte. Dann hob sie wieder die Augen und sagte: »Ich musste Grandpa etwas versprechen, aber davon kann ich reden. Er sagte zu mir: ›Viviane, es ist eigentlich unwichtig, ob du es zu einem guten Abschluss bringst oder nicht. Mit einem mäßigen bin ich auch zufrieden. Aber du darfst dein Studium nicht abbrechen. Und noch etwas: Zigaretten kann ich dir nicht verbieten, obwohl das Rauchen deiner Lunge schadet. Ich habe ja auch meine Pfeife. Aber du darfst niemals kiffen oder dich betrinken. Ein Glas Rotwein oder Sekt – warum nicht? Aber nie so, dass du nicht mehr klar denken kannst. Du musst ohne Aufputschmittel auskommen, auch später, wenn ich nicht mehr am Leben bin. Du bist jetzt alt genug, dass ich das Versprechen von dir fordern kann. Bist du einverstanden oder nicht?‹
    Ich versprach es, und am nächsten Tag fuhr Grandpa mit mir zum Friedhof, zum Grab meiner Großmutter. Und du weißt doch, Alessa, dass ich die Toten sehe…«
    Ich schluckte, war ganz in ihrem Bann. Viviane kam allmählich in Fahrt. Sie wird sich hinreißen lassen, dachte ich, und am Ende werde ich die ganze Geschichte schon erfahren.
    »Ja, ich weiß.«
    »Es gibt Menschen, die das eben nicht können. Ich nehme an, die meisten Menschen nicht. Aber für mich ist ein Friedhof
so etwas wie… wie eine Bühne, und die Toten sind wie Schauspieler und schweben von allen Seiten heran. Wir parkten also da, wo die Besucher ihre Wagen ließen, stießen die große Gittertür auf. Unter alten Tannen lag der Friedhof gepflegt und verlassen da. Schweigend gingen wir durch die schmalen Alleen zwischen den Gräbern mit ihren keltischen Kreuzen, nur unsere Schritte knirschten auf dem Kies. Es war noch früh, die Luft roch frisch und herb, der Wächter hatte den Rasen besprengt. Das Zwitschern unsichtbarer Vögel erfüllte die Luft, und ich dachte: ›Heute ist ein besonderer Tag. Die Toten sind so still, wie die Steine, unter denen sie liegen. Aber in Wirklichkeit leben sie und passen gut auf. Und sehen sie jemanden, der ihnen gefällt, dann rühren sie sich, wie in den Wind gestellt.‹ Ich sagte leise zu Grandpa: ›Aber sie sind ja überall!‹ Er machte ein seltsames Gesicht, antwortete ebenso leise: ›Ja, sie lieben die Tage nach dem Regen, wenn die Sonne wieder glänzt. Dann ist die Erde für sie wie ein Altarschrein.‹
    Für mich hörte sich das nicht sonderbar an. Ich empfand ja das Gleiche. Und dann standen wir vor Großmutters Grab mit der großen Marmorplatte und den Kerzenhaltern. Ich hatte Nelken für sie mitgebracht, einen großen Strauß. Und während ich die Blumen in die steinerne Vase stellte, sprach Grandpa von seiner unveränderlichen Liebe zu ihr und darüber, warum er nie wieder geheiratet hat …«
    Viviane brach plötzlich ab, biss sich auf die Unterlippe, als ob sie schon zu viel gesagt hätte. Sie hatte wieder diesen verschwommenen Blick, und ich sah, wie ihre Hand leicht zuckte, sodass der Aquamarin blaue Funken warf. Ich fragte halblaut: »Und dann?«
    Sie erschauerte leicht und mit einer Bewegung, die sie selbst sicherlich gar nicht wahrnahm, so rasch und instinktiv war sie gewesen, setzte sie ihre dunkle Brille wieder auf.
    »Es war wie damals«, sagte sie, »als ich die Göttin sah. Das
Bild meiner Großmutter, unter Glas, war in den Stein gefasst. Und während ich auf das Bild starrte, fühlte ich mich, als sei plötzlich ein ganz anderes Wesen da. Und mir schien, dass Lavinia in mir am Leben war, dass ich sie eingeatmet hatte, eine fantastische, plötzliche Menschwerdung. Und Grandpa, der mich nicht aus den Augen ließ, erzählte mir

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