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Mondtaenzerin

Mondtaenzerin

Titel: Mondtaenzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederica de Cesco
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selbst. Nach und nach aber fühlte er sich in eine Sphäre gedrängt, die ihn nichts anging. Das seltsame, unheimliche Gefühl ließ ihn nicht mehr los. Er hatte das schlechte Gewissen des Schülers, der plötzlich spürt, dass er in einem Winkel seines Herzens nicht genug glaubt, was sein Lehrer ihm weiszumachen versucht. Das war schlecht, wirklich schlecht. Aber auch diese Gedanken behielt er für sich, die Provokation konnte er sich nicht leisten, er war ja
von seinem Onkel abhängig. Zu mir aber sprach er, nebst vielem anderen, darüber.
    »Er wird nie zornig, ist immer gleichbleibend geduldig und freundlich. Ist er nicht in der Kirche, sitzt er hinter seinem Schreibtisch, vor dem Bild des gekreuzigten Christus. Das Bild ist lebensgroß, und er sieht es immer an. Und hinter ihm hängt das Bild des heiligen Sebastian, mit den vielen Pfeilen im Leib. Und ich sitze auch da, zwischen den beiden Bildern, aber ich will sie nicht sehen. Don Antonino gibt mir Nachhilfestunden in Latein, hört mir die Vokabeln ab. Latein mag ich sehr. Es ist ein gutes Gefühl in meinem Kopf, all die vielen Worte und Gedanken. Es ist Latein. Es hört sich schön an. Ich gebe mir große Mühe und freue mich, dass ich nach der Lektion nach draußen darf. Wenn ich gut gelernt habe, hat er nichts dagegen.«
    Giovanni musste im Freien sein können, er musste laufen, springen, unbekannte Gesichter ansehen. Er hatte immer den Drang, sich auszuziehen, die kalte Luft zu spüren, sich Wasser auf die nackte Haut zu spritzen.
    »Ich weiß«, sagte Don Antonino, »dass du Bewegung nötig hast. Ich finde es auch richtig, dass du in deiner Freizeit schwimmen gehst. Sport ist gut, weil er ganz im Sinne Platons deinen Geist stärkt und deine Kräfte erprobt. Und du machst es ja auch nur zum Spaß. Nächstes Jahr, im Seminar, wirst du wenig Gelegenheit dazu haben.«
    »Platon?«, murmelte ich. Von Platon hatten wir im Unterricht gehört. Aber ich sah überhaupt keinen Zusammenhang.
    »Doch, er redet oft von Platon. Er sagt, schließlich handelt es sich um wichtige Dinge. Platon sei zwar kein Christ gewesen, aber auch er hätte sich zum Ziel gesetzt, junge Menschen zu unterrichten. Das gehöre zur Barmherzigkeit. Er starrt mich an, wenn er das sagt, starrt durch mich hindurch, als wenn er nicht wirklich Augen im Kopf hätte, ich kann es nicht anders beschreiben. Aber seine Augen sind da, schwarz und
feucht, als ob sie in der Luft hingen. Manchmal, ohne ersichtlichen Grund, gerät er ins Zittern. Er kratzt sich, fummelt an sich herum, ich sehe seine weiße Hand auf der schwarzen Soutane. Dabei blickt er mir ins Gesicht, bis ich mich fühle, als ob ich etwas falsch gemacht hätte.
    ›Aber sei vorsichtig beim Schwimmen‹, hat er mir gestern gesagt, ›pass auf, dass du nicht ohnmächtig wirst und ertrinkst‹.«
    Giovanni erzählte es ganz ruhig, mich aber überlief ein Frösteln.
    »So gut, wie du schwimmen kannst!«
    Giovanni zog die Schultern hoch.
    »Er würde mich am liebsten einsperren.«
    »Womöglich ist er nur neidisch«, meinte ich. »Ein Priester kann nicht seine Soutane ausziehen und in Badehose einen Kopfsprung machen, draußen vor allen Leuten. Das schickt sich einfach nicht.«
    Wir lachten, Giovanni noch lauter als ich, schüttelte sich geradezu vor Lachen. Damals sprach man noch nicht unbefangen über das, was man »abartige Veranlagungen« nannte. Vor allem nicht, wenn von einem Geistlichen die Rede war. Man ließ diese Dinge in den staubigen Winkeln des Ungesagten. Aber zwischen Giovanni und mir gab es nichts Unaussprechliches. Noch lebten wir in einer Erfüllung, die alles andere zu Schemen und beweglichen Traumschatten machte; der Kummer hatte zwar die ersten Wunden geschlagen, aber noch waren die Narben nicht tief. Ja, wir lachten über Dinge, die eigentlich erschreckend waren. Und weil wir Angst in unserem Inneren fühlten, war unser Gelächter nicht fröhlich, sondern erstickt, überdreht und nahezu hysterisch. Und als wir wieder zu Atem kamen, sagte Giovanni, dass er fast jede Nacht hörte, wie der Onkel sich auspeitschte.
    »Er stöhnt bei jedem Schlag, aber er macht weiter, mir wird fast schlecht dabei.«

    Um uns herum waren nur Myrte und langes Gras, Hügelabhang und Meer, und wir beide tief vergoldet vom Sonnenschein. Doch mir kribbelte das Rückgrat. Wenn er mir das erzählte, wurde ich zu einer Art Dampfkessel. Ich platzte fast vor Wut, und gleichzeitig fürchtete ich mich.
    »Giovanni, warum tut er das?«
    Wieder herrschte

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