Mondtaenzerin
»dass du von ihm nichts wissen wolltest.«
»Ich kannte ihn ja gar nicht!« In Vivianes Augen schimmerte ein düsterer Schatten. »Miranda hat nur immer schlecht von ihm geredet. Und jetzt ist er ganz anders, als ich dachte!«
»Ist er wirklich so geizig?«
»Grandpa? Nie im Leben! Er ist meganett. Und wie er erzählen kann! Du kannst dir nicht vorstellen, wie lustig er ist. Ich hörte nicht auf zu lachen. Er zeigte mir das Tea-Museum und die neue Tate Modern, den London Tower, die Docklands und Westminster Abbey, wo die Königin gekrönt wurde. Wir stiegen auf das Riesenrad, das größte der Welt! In Covent Garden führte er mich in Boutiquen; ich konnte mir Klamotten aussuchen, und es störte ihn überhaupt nicht, dass sie schrill waren. ›Guter Geschmack lässt sich lernen‹, sagte er, ›und mit irgendwas muss man ja anfangen.‹ Wir sahen uns das Musical Oliver Twist an und besuchten sogar ein klassisches Konzert. Im Royal Festival Hall war das. Ich dachte immer, Konzerte sind für alte Leute und stinklangweilig, aber da waren
sogar Fünfjährige, mucksmäuschenstill und ganz versessen auf Musik. Grandpa sagte, wenn wieder Saison ist, gehen wir in die Oper und ins Theater. Er will mich auch zu Pferderennen mitnehmen, wo man eine Menge berühmter Leute trifft. Früher hatte Grandpa selbst einen Rennstall, aber heute nicht mehr. Ich konnte kaum glauben, dass er schon siebenundachtzig ist. Das heißt, er hatte manchmal Mühe beim Gehen, zog ein Bein nach, setzte sich auf eine Bank und atmete komisch, ganz schnell. So!«
Viviane machte es vor, ihre Bauchgrube hob und senkte sich stoßweise.
»Sein Atem geht nicht mehr in die Lungenspitzen, verstehst du? Er sagt, er nimmt Medikamente, und es sei weiter nicht schlimm. Aber er will nie lange an der Sonne bleiben, weil er dann rot wird und schwitzt. Er lebt sehr zurückgezogen. Seitdem er pensioniert wurde, kümmert er sich wenig um Politik. Er geht selten ins Parlament, und nur als Beobachter, wenn wichtige Beschlüsse diskutiert werden. Aber er sagt, dass jetzt, wo ich da bin, sein Leben wieder einen Sinn hat. Wenn ich ihm etwas vorspielte oder sang, war er ganz begeistert. Ich hatte das Gefühl, dass ihm meine Stimme wirklich gefiel, und sagte ihm, dass ich eine Rockband gründen wollte. Er war überhaupt nicht geschockt. ›Viviane‹, sagte er, ›wollen wir eine Vereinbarung treffen? Du gehst aufs College, und wenn du den Abschluss hast, stelle ich dir Leute vor, die dir helfen können.‹ Er kennt viele Leute aus der Musikszene, sogar den Manager der Rolling Stones!«
Sie redete und redete. Ich hörte zu, ging mit ihr, sah alles, was sie erzählte, auf ihrem Gesicht.
»Grandpa sagte aber auch, das Musikgeschäft ist knallhart. Und schaffe ich es nicht, nützt mir die gute Schulbildung. Es gibt Beziehungen, die man im College knüpft und die erst später wichtig werden. ›Wenn es sich herausstellen sollte, dass du kein Talent hast‹, sagte er, ›ergreifst du vielleicht einen Beruf,
zu dem man kein Talent braucht.‹ Ich fragte Grandpa: ›Welchen Beruf meinst du? Zum Beispiel?‹ Wenn wir so sprachen, tat er schrecklich ernst. Aber sah ich richtig hin, entdeckte ich immer ein Blinzeln in den Augen und wusste, dass er sich im Grunde amüsierte.
›Ich meine zum Beispiel Finanzexpertin!‹
›Finanzexpertin?‹, rief ich. ›Wo ich weder addieren noch subtrahieren kann?‹
›Trotzdem kannst du eine gute Finanzexpertin werden‹, sagte Grandpa. ›Wesentlich ist nur, dass du dich für eine Sache begeisterst. Wir werden schon herausfinden, ob du Talent zur Musikerin oder zur Finanzexpertin hast. Du musst nur wissen: Talent verlangt alles, gibt aber auch viel zurück.‹
Das Schlimmste für jeden Menschen, meinte Grandpa, sei, sein Leben lang gezwungen zu sein, das zu tun, was er nicht will.«
Ich löffelte mein Eis und nickte, weil mir nichts einfiel, was ich sagen konnte. Sie trug so viel Begeisterung im Gesicht.
»Das musst du verstehen«, sagte Viviane. »Grandpa hat überhaupt keine altmodische Einstellung. Ich hätte nie gedacht, dass mir unsere Gespräche so gefallen würden. Ich bin jetzt drei Tage hier, und sie fehlen mir jetzt schon.«
Viviane hatte nie unter Wortarmut gelitten, aber mir fiel auf, dass sie keine schlechten Ausdrücke mehr gebrauchte. Und auch Mirandas Floskeln kamen ihr nicht mehr über die Zunge. Sie sagte kein einziges Mal: »Drogen sind der Schlüssel, der rostige Türen öffnet«, oder: »Man soll ein in der Ferne
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