Monica Cantieni
einer Woche war Tat da und tat kein Auge zu. Er schlief schlecht an fremden Orten. Seine Uhren fehlten ihm, und er musste die Toscani draußen rauchen. Nachts wanderte er im Morgenmantel durch die Wohnung und geisterte durchs Treppenhaus. Meine Eltern taten auch kein Auge zu, dauernd mussten sie ihn einfangen. Einmal stand er bei Toni in der Wohnung, zog seine Beine aus und weigerte sich, wieder zu gehen. Toni trug ihn hinunter, setzte ihn auf dem Sofa ab und drückte dann meiner Mutter die Beine in die Hand. Tat strahlte. Dann schien er aufzuwachen, sah Toni an und mich, bevor er sein Gebiss aus dem Mund nahm, um nachzusehen, ob noch alle Zähne da waren. Seit er bei uns war, machte er das jeden Tag.
– Man kann nie wissen, in der Stadt kommt alles weg, kaum hast du dich umgesehen.
Meine Mutter konnte sich nur bei der Blondierten erholen. Sie setzte sich bei ihr aufs Sofa, ließ sich rosa Törtchen bringen, tunkte sie in den Kaffee und seufzte. Sie brauchte nichts zu sagen. Die Blondierte hatte Tat vor einer Woche kennengelernt. Er hatte sie morgens um fünf aus dem Bett geklingelt und ihr seine leere Schachtel Toscani hingestreckt. Während einer Viertelstunde hatte er versucht, ihr klarzumachen, was ihm fehlte. Und das ohne sein Gebiss.
Der Tisch war gedeckt, er war für die große Fuhre ausgezogen. Tante Joujou hatte höchstpersönlich frisches Baguette mitgebracht, das halbe Auto voll französischen Käse und Wein geladen, für Schneewittchen einen Sack altes Brot und für mich einen gelben Regenmantel, der es mit jedem Meer und mit dem Walensee aufnehmen konnte, er roch wie eine Luftmatratze. Die Blondierte verteilte Tannenzweige auf die Teller, und Werner Fernfahrer hatte schon vor dem Essen dreimal bei uns angerufen, um mit ihr zu reden, aus einer Stadt, deren Namen keiner aussprechen konnte, und jedes Mal, wenn die Blondierte den Hörer schließlich in der Hand hielt, war die Verbindung wieder abgebrochen, während ich unter dem Tisch Henry und Silvesters riesige Schuhe bewunderte.
Mein Vater hatte gedroht, den Weihnachtsmann samt Tante Joujou eigenhändig auf die Straße zu werfen, ihr Baguette hinterher, und er schwor, mit Joujous Käse die französische Botschaft in Bern zu sprengen und ihren Wein den Säufern am Bahnhof zu spendieren, falls Henry und Silvester nicht auch kommen dürften.
Sie waren von Tat begeistert. In Afrika zählt es enorm viel, wenn es einer bis ins hohe Alter geschafft hat, am Leben zu bleiben, erklärten sie. Zur Feier des Tages trug Tat seinen Anzug und beide Beine. Henry und Silvester wollten sie sehen. Wahre Wunder der Technik. Als Ingenieure konnten sie das beurteilen. Kein Vergleich mit der Ware, die sie zu Hause hatten, obwohl Beine zu Hause häufiger gebraucht wurden als hier, weil dort immer wieder Krieg herrschte und es der Krieg auf die Beine abgesehen hatte. Tat war stolz auf die Schweizer Beine, die Sulzer Gelenke, er erklärte die Technik, er fluchte nur kurz über die Versicherung, zeigte auch seine neue Brille und ließ sich die Feuersoße erklären, die Henry und Silvester aus Afrika in Gläsern mitgebracht hatten; eine Soße, die Afrika frisch macht und Europa Ohrensausen verursacht; so scharf, dass das Huhn aus dem Ofen gleich fliegen lernen würde, sagten sie. Tat nickte und faltete seine Serviette zu einem Schiff, das er in den Suppenteller stellte. Bis das Huhn kam, zupfte er das Segel zurecht und knetete seinen Rumpf, ein dünner Faden Spucke lief aus dem Mundwinkel.
– Wo ist Eli? Ich will Eli sehen.
– Eli kann nicht kommen.
– Er fehlt am Tisch.
Mein Vater sah ihn lange an, und Tat faltete sein Schiff neu.
– Gib mir den Teller.
– Riecht köstlich, sieht auch so aus. Ich hab den Krieg erlebt als Grenzer zu Österreich, das und die Rationierungen. Einmal aßen wir sogar den Hund. Ich will Oskar sehen.
Er pikste mit der Gabel in den Arm meines Vaters.
– Lass das doch. Oskar ist im Garten.
– Na los, ich will ihn sehen. Gleich.
– Morgen. Lass uns morgen runtergehen, das Huhn wird kalt.
– Ich will ihn jetzt sehen.
Meine Mutter nahm eine Tablette gegen das Himmelelend und schlug mir vor, morgen mal wieder zum Baum mit der schönsten Aussicht zu gehen und zu Fast-ohne-Federn, um aus diesem Irrenhaus herauszukommen. Tat war nicht zu beruhigen. Wir mussten ihm aufhelfen und ihn ans Fenster bringen, wo mein Vater nach Oskar pfiff, der an der Kette riss und anfing zu bellen.
– Bist du jetzt beruhigt?
Tat nickte, legte das
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