Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter: Ein Mädchen wird von seiner Familie jahrelang misshandelt (German Edition)
ins sechste Schuljahr hinein kam ich davon nicht los.
War ich vielleicht wie meine Mutter? Ich starrte mich im Spiegel an. Meine Mutter hatte braunes Haar, ich blondes. Aber sonst? Sie war fett, ich war fett. Sie war doof, ich war doof. Sie war faul, ich war faul. Sie tat, was mein Vater wollte, ich tat, was er wollte. War ich also wie meine Mutter?
»Was glotzt du dich so an?«, sagte mein Vater. »Pass bloß auf, dass der Spiegel nicht zerspringt, so hässlich wie du bist!« Grinsend stand er hinter mir. Seine Augen hielten meinen Blick im Spiegel fest.
Was dann passierte, kann ich mir bis heute nicht erklären. Kaum merklich hob er die Hand – und plötzlich, im Bruchteil einer Sekunde, lief ein Blitz quer über das Glas. Das Spiegelglas löste sich wie eine Wand aus Mosaiksplittern, Scherben fielen klirrend ins Waschbecken, auf die Fliesen, zersprangen überall.
Ich stand wie angewurzelt. Hatte ich geträumt?
»Monika! Verdammt! Habe ich es nicht gesagt? Jetzt ist er hin! Der teure Spiegel.« Mein Vater schien außer sich.
Ich schlug die Hände vors Gesicht. »Hau mich nicht! Bitte, Papa, hau mich nicht!«
»Was ist denn hier los?« Meine Mutter stürmte herein, schrie auf, als die Scherben unter ihren Füßen knirschten. »Wer war das?«
»Die Alte!«, sagte mein Vater. »Spielt Spieglein, Spieglein an der Wand. Kein Wunder, dass der Spiegel zerspringt, bei der Visage.«
Meine Mutter riss mir die Hände vom Gesicht. »Guck dir die Sauerei an!«, brüllte sie. »Weißt du, was das heißt: ein kaputter Spiegel? Sieben Jahre Unglück! Kapierst du Schwachkopf das überhaupt?« Sie schüttelte mich, bis ich keine Luft mehr bekam.
Mein Vater stand irgendwo hinter uns, grinsend. Etwas grauenhaft Vertrautes war in seinem Blick. »Lass gut sein, Schatz!«, sagte er schließlich und zog meine Mutter von mir weg. »Lass die Alte. Es lohnt sich nicht, sich über sie aufzuregen.«
Wenn ich die Augen schließe, kann ich das Bild immer noch vor mir sehen: wie meine Eltern eng umschlungen über die knirschenden Scherben schritten. Wenig später stießen ihre Schreie Dolche in mein Herz.
Es dauerte lange, bis keine Spiegelsplitter mehr im Badezimmer herumlagen. Stefan und ich waren immer noch nicht perfekt im Haushalt. Ein neuer Spiegel war schneller beschafft. Mein Vater kaufte ihn von meinem Geld, das ich zu Weihnachten bekommen hatte. Schließlich hatte ich den Schaden ja verursacht – ich mit meinem Gesicht wie ein Feuermelder.
Sie fragen sich vielleicht, wieso ich dieses in Ihren Augen gewiss alberne, nichtige Kindheitserlebnis nicht längst abgeheftet und zu den Akten gelegt habe? Schließlich bin ich doch heute eine erwachsene Frau, die sich selbst längst klargemacht haben sollte, was wirklich an ihr dran ist.
Sicher könnte ein Psychologe die Frage weit schlüssiger beantworten als ich. Ich weiß nur, dass mein Ich irgendwie durch den Fleischwolf gedreht wurde und ich bis heute nicht gelernt habe, das von meinen Eltern in mich hineinprojizierte Bild meiner selbst von meinem tatsächlichen Ich abzulösen.
Ich trage inzwischen Ohrringe und Ketten, Armbänder, an jedem Finger einen Ring. Ich liebe es, eine moderne Frisur zu tragen, und lasse mir meine Haare färben. In der Wahl von Brillen, die mir stehen, bin ich geradezu exzellent.
Doch ich schmücke mich nicht aus Freude oder Wohlgefallen an mir. Die Frisur an sich, die Farbe eines Ohrrings, die Form einer Brille sind es, die mir gefallen. Sie sind es, die ich im Spiegel ertrage. Weil mein Ohrring schön ist, verzeihe ich meinem Ohr, dass es ihn trägt. Weil meine Ketten schön sind, erlaube ich meinem Hals, dass sie um ihn geschlossen werden.
Es hilft nicht, dass Freundinnen und Freunde mir sagen: »Du siehst hübsch aus.« Solche Worte machen mir Angst. Mein Vater benutzte sie, ehe er mich benutzte. Immer noch erschrecke ich vor der Botschaft, die sie früher in sich trugen. Noch immer erwarte ich, dass der Spiegel zerspringt, wenn ich mich in ihm anschaue.
Ob ich mich jemals werde ertragen können? Ob es mir einmal gelingen wird, mein Gesicht im Spiegel zu betrachten und es zu schminken? Ich weiß es nicht. Aber ich übe. Es gelingt schon, eine Frisur zu stecken, Kämmchen und Spangen in mein Haar zu schieben. Die Hand zittert mir noch dabei. Oft muss ich mich abstützen und mich daran hindern, einfach fortzugleiten, mich davonzustehlen aus meinem eigenen Ich. Und doch gibt es Erfolge. Ich habe bewusst entdeckt, dass meine Augen blau sind, blau
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