Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter: Ein Mädchen wird von seiner Familie jahrelang misshandelt (German Edition)
diese »Spielchen« so ungeheuerlich waren, dass man sie nicht aussprechen durfte. Wenn nicht einmal Tante Inge mir glaubte, die mich kannte wie kein zweiter Mensch – wer sollte mir dann überhaupt noch glauben?
Und noch etwas begriff ich mit absoluter Klarheit: Ich selbst war ungeheuerlich! Ich begriff es ein für alle Mal.
Niemand kann ermessen, wie einsam ich an jenem Nachmittag bei Tante Inge wurde. Sie war mir wichtiger als meine Mutter. Sie war immer da gewesen, wenn ich sie brauchte. Sie hatte mir immer gezeigt, wie lieb sie mich hatte. Sie war der beständige, ruhende Pol in meinem Leben, die einzig wahre Zuflucht, die ich kannte. Ich hatte ihr vertraut.
Aber sie vertraute mir nicht, beantwortete mein Vertrauen mit abgrundtiefem Misstrauen. Ich hatte auf Trost, Verständnis, Liebe und Hilfe von ihr gewartet. Doch was ich erntete, war ihr Zorn und ihre Schelte und ihre Drohung, mich vollends fallen zu lassen.
Auch wenn ich es für mich nicht in Sätze fasste – von diesem Nachmittag an wusste ich, dass mir niemals jemand glauben würde, mir niemand jemals helfen würde. Ich wusste, dass ich niemandem vertrauen durfte und dass es klüger war, die Wahrheit für mich zu behalten. Es dauerte viele, viele Jahre, bis ich wieder fähig wurde, jemandem zu vertrauen. Meine Tante hatte ganze Arbeit geleistet.
Die Stimmung, die sich in der Küche breit gemacht hatte, war für mich so bedrückend, dass es kaum auszuhalten war. Als Georg und meine Cousins, die in den Kinderzimmern spielten, nach mir riefen, wollte ich erleichtert aufspringen. Doch Tante Inge hielt mich zurück. »Du hast gelogen«, sagte sie. »Du bist ein ungezogenes, böses Kind. Deshalb darfst du nicht mit den anderen spielen. Du bleibst hier sitzen und schämst dich. Allen Grund dazu hast du ja wohl!«
»Sie soll aber mitspielen!«, protestierte Georg. »Sie hat doch gar nichts gemacht.«
»Nein!«, antwortete Tante Inge, und dabei blieb es.
Ich hörte die anderen lachen, streiten, sich wieder vertragen. Wenn einer von ihnen durch die Küche zur Toilette musste, streifte mich manchmal ein scheuer Blick.
»Was hat sie denn angestellt?«, wollte einer meiner Cousins wissen und blinzelte mir verstohlen zu.
Tante Inge antwortete nicht. Sie verzog nur den Mund, als hätte sie einen schlechten Geschmack auf der Zunge.
Der Nachmittag verging. Zuerst schämte ich mich fast zu Tode. Ich fühlte mich schuldig, weil ich über das Ungeheuerliche zu reden versucht hatte. Ich wagte nicht, mich zu bewegen. Mit den Ohren verfolgte ich Tante Inge auf Schritt und Tritt. Da war so ein letztes Fünkchen Hoffnung in mir, dass sie mich trotz allem noch lieb hätte und mir verzeihen werde.
Aber meine Tante blieb hart. Sie sah mich nicht an. Sie berührte mich nicht. Wenn die anderen etwas zu naschen oder zu trinken erhielten, ging ich leer aus. Doch das war mir egal. Ich sehnte mich nicht nach Bonbons oder einem Stück Kuchen – sondern nur nach einem guten Wort.
Als ich mich leer gesehnt und mich innerlich randvoll geweint hatte, kam der Trotz. Sollte sie mich doch wegschicken! Sollte sie mich doch nicht mehr leiden mögen! Dann mochte ich sie eben auch nicht mehr – basta! War mir doch egal!
Dann kam die Angst. Meinem Vater wollte sie es sagen. Und der hatte gedroht: »Wenn du redest, passiert etwas.« – »Wenn du redest, läuft die Mami uns weg.« – »Wenn du redest, bringen wir dich dem Esel zurück.«
In meinem Bauch saß etwas, das wollte mich zerreißen. Warum kam niemand und holte mich hier raus? Warum fiel ich nicht tot um?
Die Zeiger der Küchenuhr rückten unerbittlich vor. Noch dreißig Minuten, bis Papa kommen würde, noch zwanzig, noch fünf ... Jetzt musste es gleich klingeln.
»Nein!«, schrie ich auf und stürzte so heftig auf meine Tante zu, dass ich den Stuhl hinter mir umwarf. »Sag es ihm nicht, bitte, bitte, sag es ihm nicht!«
»Doch!«, sagte Tante Inge und löste meine Arme von ihren Hüften. »Du hast es dir selbst zuzuschreiben. Solche Lügen gehen zu weit. Das darf ich dir nicht durchgehen lassen. Du musst lernen, dass man solche Geschichten nicht erzählt.«
Ich weiß nicht mehr, wann mein Vater endlich kam. Ich weiß auch nicht mehr, ob Tante Inge ihm meine Schandtat gleich erzählte. Doch der Moment, da er ihr mit offenem Mund zuhörte, auf dem Küchenstuhl sitzend, hat sich tief in mein Gedächtnis eingegraben.
Als meine Tante geendet hatte, lachte er. »Das hat sie dir erzählt? So ein verdammtes kleines Luder! Du
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