Monika B - Ich bin nicht mehr eure Tochter
hatte!
Trotzdem gab er sich einen Ruck und brachte mich wieder zu Oma und Opa. Schließlich hatte meine Mutter in einem Kinderheim gearbeitet. Sie musste ja wohl am besten wissen, was gut für ihre eigene Tochter war.
So kam es, dass ich immer wieder in Essen schlafen musste. Zwar schrie und weinte ich jedes Mal bitterlich, aber es half nichts: Meine Eltern fuhren fort und ließen mich da. Und Opa passte auf mich auf.
Ich wünschte, ich könnte seinen nach Zigarrenrauch stinkenden Mund, sein kratziges Kinn an meinem Bauch und seine Hände vergessen, die so grob waren und mir so wehtaten, wenn sie mich überall streichelten und drückten. Noch heute wird mir übel, wenn jemand in meiner Nähe eine Zigarre raucht oder ein dicker alter Mann nach kaltem Rauch stinkt.
Die grässlichen Bilder der Erinnerung in meinem Kopf! Ich will sie nicht! Fort mit ihnen! Aber sie tauchen auf, immer wieder. Opa mit offener Hose vor meinem Gesicht. Etwas in meinem Mund, woran ich fast ersticke. Und immer diese böse, raue Stimme, die mir Angst macht: »Still! Sonst schimpft Opa!«
Einmal im Winter kehrte ich von einem Besuch in Essen krank nach Hause zurück. Wie immer hatte mein Vater mich abgeholt. Wie immer hatte ich mich an ihn geklammert und ihn vor Freude umarmt. Alles schien wie immer. Doch an diesem Abend begann ich plötzlich, nach Luft zu ringen und zu husten wie nie zuvor. Mein Vater erzählte, dieser Anfall sei ohne Vorwarnung gekommen. Er habe mit mir Schlaflieder gesungen und gebetet, als ich mich auf einmal mit einem Ruck im Bett hochsetzte und loshustete. »Wie ein Metzgerhund«, sagte er. »So richtig hohl und laut.«
Am meisten erschreckte ihn aber wohl mein Atmen. Ich quälte mich so sehr ab, genügend Luft zu bekommen, dass alle Rippen hervortraten und mein Bauch wie ein leerer Blasebalg einfiel.
Meine Mutter kam schließlich mit einem Buch über Kinderkrankheiten an. »Wahrscheinlich Krupp«, sagte sie. »Ich habe den Arzt angerufen. Hier steht, er befällt vor allem gedrungene, überernährte, oft auch aufgeschwemmte Kinder. Habe ich nicht oft genug gesagt, die Moni ist zu speckig?«
Der Arzt war schnell zur Stelle. »Mit Krupphusten ist nicht zu spaßen«, meinte er und horchte mich gründlich ab. »Die Kleine muss ins Krankenhaus. Ich kann sonst keine Garantie übernehmen. Es gibt Fälle, wo Krupp zum plötzlichen Tod des Kindes führt. Ich möchte kein Risiko eingehen. Ihre Tochter ist mir einfach zu jung für eine Behandlung zu Hause. Kommen Sie, es eilt!«
Bis zu diesem Zeitpunkt war ich allenfalls mal über Nacht von zu Hause fort gewesen. Und nur in unseren eigenen vier Wänden fühlte ich mich sicher. Dennoch fiel diesmal meinen Eltern, die mich sonst so bereitwillig abschoben, die Trennung schwerer als mir. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, zu atmen und zu überleben. Ich merkte kaum, was mit mir geschah, so schwer war der Kruppanfall.
»Du sahst so winzig aus in diesem fremden Bett«, sagte mein Vater irgendwann, als er mir aufzählte, wann und wie oft er schon etwas für mich getan hätte, wofür ich ihm zu Dank verpflichtet sei. »Jede Menge Leute wuselten da um dich herum, jeder wollte was von dir, jeder fasste dich an. Ich hatte eine Riesenangst um dich. Du warst doch mein Engelchen! Was hätte ich denn gemacht ohne dich?«
Ja, mein Vater konnte sich nicht vorstellen, ohne mich zu sein. Aber noch weniger konnte ich ohne meinen Vater sein.
Ich war vielleicht zehn, als er mir von diesem ersten Krupphusten erzählte. Ob ich spürte, wie glücklich er sei, dass er mich habe, fragte er mich eindringlich. Und ob ich ihn denn auch so lieb habe wie er mich? Seine Hände waren überall auf meiner Haut. Ich war müde, furchtbar müde. Aber ich durfte nicht schlafen. Wenn mir die Augen zufielen, bekam ich »eine geballert«. Also riss ich sie auf, als hätte mir jemand die Lider oben und unten angenäht. Wäre ich doch nur gestorben bei diesem Kruppanfall!
Das Krankenhaus, in dem ich damals lag, ist mittlerweile in einen erweiterten, modernisierten Klinikbetrieb umgewandelt worden. Dort bewahrt man mit den übernommenen Archivmaterialien auch meine Befunde auf. Aus ihnen geht unter anderem hervor, dass ich rund vier Wochen in der Klinik verbleiben musste.
Es waren Wochen, die mich in meiner Entwicklung einen mächtigen Sprung nach vorn brachten. Ich weiß nicht, wie es dazu kam, aber ich lernte in dieser Zeit sowohl laufen als auch sprechen.
Tante Inge konnte mir gar nicht oft genug
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