Monika B - Ich bin nicht mehr eure Tochter
Schlafstörungen entwickelte, auch zu Hause. Meist schrie ich schon, sobald zum Schlafen das Licht ausgeschaltet wurde.
»Was ist denn bloß los mit ihr?«, fragte mein Vater.
»Was soll schon los sein?«, fragte meine Mutter zurück. »Viele kleine Kinder kriegen plötzlich Angst im Dunkeln. Das weiß doch jeder. Bring ihr am besten eine Nachtlampe am Bett an, dann schläft sie bestimmt wieder ruhiger.«
Meine Mutter behielt Recht. Das schwache Licht dämpfte meine Angst. Instinktiv verband ich das, was mich bei meinen Großeltern erschreckt und mir wehgetan hatte, mit der Dunkelheit, in der es mir widerfahren war. Solange es leidlich hell um mich war, schlief ich irgendwann auch ein. Aber durchschlafen wie früher konnte ich nicht mehr. Immer wieder wachte ich schreiend auf und wollte mich nur von meinem Vater trösten lassen.
Natürlich gefiel meinen Eltern diese Veränderung absolut nicht. »Verdammtes Geschrei!«, schimpfte mein Vater. »Soll das heißen, dass wir nichts mehr unternehmen können?«
»Kleine Kinder in ihrem Alter fangen nun mal an zu träumen«, sagte meine Mutter. »Was soll ich denn machen? Ich kann’s doch nicht ändern!«
»Was heißt das: Du kannst nicht? Kannst du mit Kindern umgehen oder nicht? Gewöhn ihr das ab – und zwar schnell!«
»Wenn wir uns nicht darum kümmern, hört sie irgendwann von selbst damit auf«, sagte meine Mutter. »Sie ist eben verwöhnt. Du schleppst sie ja bei jeder Gelegenheit auf dem Arm herum. Hättest du auf mich gehört ...«
»Wer erzieht denn hier die Gören?«, giftete mein Vater zurück. »Du oder ich? Wer tönt denn immer, wie perfekt er darin ist? Ich etwa?«
Meine Mutter gab keine Antwort mehr. Aber die Liebe zu mir war durch diesen Krach ganz sicher nicht größer geworden.
Tante Inge erzählte mir noch oft, wie anstrengend ich als Kleinkind war. Meine Eltern verzweifelten fast an mir. Stefan war brav wie ein Lamm. Man konnte ihn einfach irgendwo hinsetzen, und er war ruhig. Und ich? Egal, wo ich war, ob bei Verwandten oder Bekannten, ich blieb nur bis zu dem Moment friedlich, da jemand mich schlafen legen wollte. Spätestens dann brüllte ich alle Welt zusammen und hörte nicht auf, bis mein Vater wieder in der Tür stand und mich mitnahm.
Er fand sich damit ab, dass mich niemand mehr behalten wollte. Ich gewöhnte mich daran, in jeder Kneipe, unter jedem Tisch, in jeder Ecke zu schlafen, wenn er nur in der Nähe war.
Meine Mutter aber verzieh mir nie. Sie wollte ausgehen, sich amüsieren, etwas vom Leben haben, wenigstens für ein paar Stunden aus ihrer kleinbürgerlichen Enge ausbrechen. Außerdem bekam sie immer häufiger von meinem Vater zu hören, dass es mit ihren Erziehungskünsten ja wohl doch nicht so weit her sei.
Der einzige Ausweg, der meiner Mutter einfiel, war, mich bei jeder passenden Gelegenheit nach Essen zu ihren Eltern zu bringen. Ihre Mutter hatte immer alles für sie getan; sie würde auch mit einem Schreihals wie mir fertig werden. Dass ich schon weinte und mich an meinen Vater klammerte, wenn ich nur das Haus der Großeltern sah, schreckte meine Mutter nicht. Es kümmerte sie auch nicht, was sie mir mit diesen Besuchen antat. Hauptsache, sie selbst bekam, was sie wollte. Hauptsache, mein Vater war wieder zufrieden mit ihr.
Zum damaligen Zeitpunkt begriff mein Vater wohl absolut nichts. Er sah zwar, dass der Versuch meines Opas, mich zu begrüßen, ausreichte, mich in Panik zu versetzen. Er sah auch, dass ich weder auf Opas Arm noch auf seinen Schoß wollte. Aber warum?
»Bringt sie am besten gar nicht mehr her«, sagte meine Oma. »Sie lehnt uns eben ab. Sind dem vornehmen Fräuleinchen wohl nicht fein genug.«
»Unsinn!«, meinte mein Vater. »Sie ist doch noch klein. Es fällt ihr eben schwer, sich von mir zu trennen.«
»Verhätschel sie nur noch mehr!«, rief meine Mutter. »Sie merkt doch ganz genau, dass du dann wachsweich wirst. Sie tanzt dir doch bloß auf der Nase herum. Das ist genau wie am ersten Kindergartentag: Da heulen die meisten Kleinen und wollen der Mutter am liebsten hinterher, wenn sie gehen will. Doch kaum sind sie dann mit der Erzieherin und den anderen Kindern allein, ist der Kummer vorbei. Kinder vergessen so schnell. So ein paar Tränen sind nicht weiter schlimm.«
Mein Vater mochte das alles nicht so recht glauben. Er war verärgert, dass ich ihm diesen Ärger einbrockte – aber ich tat ihm auch Leid, und gerührt war er sowieso: Sein Engelchen, wie lieb es ihn doch
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