Monika B - Ich bin nicht mehr eure Tochter
Explosion aus mir herausbricht.
Beulen, eitrige Schrunden, Narben, offene Wunden überall an meinem Körper, auch an meinen zartesten Stellen – sie reden ihre eigene Sprache. Sie machen für jeden sichtbar, wie verletzt ich bin. Meine Worte kann man überhören, missverstehen, verdrehen, gegen mich wenden – blutende Zeichen auf meiner Haut schreien lauter.
Als kleines Mädchen ahnte ich die Zusammenhänge zwischen innerer Not und Selbstverstümmelung nicht. Ich fühlte nur vage, dass ich lieber gegen meine Mutter angerannt wäre als gegen die Wand. Aber meine Schuldgefühle verhinderten das. Mit dem Kopf vor die Wand zu laufen tat einfach gut. Warum, fragte ich mich damals nicht.
Heute, da ich mehr über meine eigenen Gefühle weiß, benutze ich lieber einen Punchingball oder schmeiße irgendeinen Gegenstand gegen die Wand. Schreien kann ich noch immer nicht.
XI
Mein Vater verstand es immer hervorragend, seine Familie nach außen hin als mustergültig darzustellen. Wichtig war ihm nicht zuletzt, der Welt zu zeigen, dass er und seine Frau ihren erzieherischen Aufgaben stets voller Verantwortungsbewusstsein gerecht wurden. Nichts wäre ihm wohl peinlicher gewesen, als wenn jemand auf die Idee gekommen wäre, seine Kinder würden vernachlässigt.
So stellte mein Vater auch vor Gericht die Behauptung auf, meine Mutter sei jederzeit für uns Kinder verfügbar gewesen. Erst nach Georgs Einschulung habe sie wieder zu arbeiten begonnen – und zwar stundenweise als Kellnerin, da diese Tätigkeit, die sich vom späten Nachmittag bis in die Nacht hinein erstreckte, ihr erlaubt habe, tagsüber uns Kinder zu versorgen. Fast durchwegs sei er, wenn sie aus dem Haus ging, selbst bereits zu Hause gewesen und habe uns Kinder beaufsichtigt.
In Wahrheit hatte meine Mutter den Moment gar nicht mehr erwarten können, in dem Boris seinen Kindergartenplatz erhielt und ich in die Vorschule kam. Kaum war gesichert, dass wir regelmäßig aus dem Haus gingen, nahm sie Arbeit als Halbtagskraft in einer Fleischerei an. Abends ging sie zusätzlich regelmäßig kellnern.
Kamen wir Kinder mittags früher als meine Mutter nach Hause, durften wir bei der Familie eines Schulfreunds meines Vaters klingeln, der ganz in der Nähe wohnte. Die Mertens hatten zwei kleine Mädchen in Georgs Alter. Soweit ich zurückdenken kann, waren sie die einzigen Spielgefährten, die meine Eltern jemals für uns akzeptierten.
Tante Inge oder Oma Grete beaufsichtigten uns – entgegen dem, was mein Vater vor Gericht behauptete – nur dann, wenn meine Mutter einmal ins Krankenhaus musste. In der übrigen Zeit waren wir weitestgehend auf uns selbst gestellt – und gehalten, darauf zu achten, dass dies den Nachbarn möglichst nicht auffiel.
Stefan, der bis dahin nur dafür zuständig gewesen war, dass wir Jüngeren ordentlich spurten und leidlich sauber in den Kindergarten oder die Vorschule kamen, erhielt nun immer öfter und immer selbstverständlicher die ehrenvolle Aufgabe, uns zu bekochen. Anfangs sollte ich ihm dabei helfen. Doch ich hatte schon bald heraus, dass es hilfreich war, deutlich zu machen, dass ich für derartige Aufgaben zu blöd war. Dafür brauchte ich mich gar nicht groß zu verstellen. Noch heute neige ich dazu, selbst Wasser anbrennen zu lassen.
Zum Putzen, Bettenbauen, Aufräumen und anderen ähnlich hinreißenden Aufgaben war ich leider nicht zu blöd. Als hier die Weichen gestellt wurden, war ich noch nicht clever genug, oft genug den Eimer mit dem Schmutzwasser umzustoßen oder vergleichbare Katastrophen zu verursachen.
Kamen Tante Inge oder Oma Grete einmal zu Besuch, packte sie das nackte Grausen. Spinnen und Küchenschaben, Silberfischchen und Kakerlaken genossen ihr Dasein in unserer Wohnung, in jeder Ritze, jeder Ecke, jeder Schublade waren sie zu finden. Überall stand schmutziges Geschirr herum. Und unsere Kleider machten den Eindruck, sie seien schon von etlichen Generationen vor uns getragen worden – ohne jemals gereinigt worden zu sein, versteht sich.
Irgendwann während meiner Vorschulzeit hatten wir Kinder auch alle miteinander zum ersten Mal Kopfläuse. Es geschah später noch öfter. Wie ich die Waschprozedur – die durch das Zetern meiner Mutter nicht gerade angenehmer wurde – hasste! Und wie ich mich schämte, als die Kinder in meiner Klasse mit Fingern auf mich zeigten und nicht neben mir sitzen wollten.
Nicht nur wegen der Kopfläuse hatte ich es schwer in der Vorschule. Ich fand mich in diesem so
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