Monkeewrench 02 - Der Koeder
ermordet worden war, wäre dieser Wunsch völlig verständlich gewesen. Kummer breitet sich aus, bis er ein eben leer gewordenes Haus erfüllt hat, und besser als jeder andere wusste Marty, dass allein zu überleben viel schlimmer war, als ebenfalls tot zu sein. Aber aus dem Grunde wollte Lily ihn nicht bei sich haben. Jetzt, da Moreys Tod ihn endlich aus seiner Isolation geholt hatte, wollte sie ein Auge auf ihn haben, und das wussten sie beide. Irgendwie ahnte die alte Dame, was er vorhatte. So war es schon immer gewesen – bis auf das eine Mal.
Er krümmte sich zusammen, als das Jaulen des Staubsaugers wieder anhob. In den vergangenen vier Stunden hatte Lily gekocht und sauber gemacht, weil sie für den nächsten Tag mit einem ganzen Haus voller Trauergäste rechnete. Er hatte versucht zu helfen, damit sie schlafen gehen konnte, und es wäre wegen des Staubsaugers fast zu einem schlimmen Streit gekommen. «Hab ein Herz, Martin», hatte sie ihn schließlich gebeten, und da erst war ihm klar geworden, dass es ihr überhaupt nicht darum ging, die Arbeit zu beenden. Marty hatte seine Flasche, Lily ihren Staubsauger, und wehe, jemand versuchte, ihnen diese Krücken zu nehmen, ohne die sie den Verstand verlieren würden.
Er schnappte den Scotch, ging in die Küche, holte zwei saubere Gläser und brachte sie ins Wohnzimmer. Bei der Gelegenheit trat er die Staubsaugerschnur aus der Steckdose. «Um Gottes willen, Lily, setz dich hin und ruh dich aus. Es ist schon fast elf Uhr.»
Er hatte zumindest leichten Widerstand erwartet und einen anzüglichen Kommentar zum Scotch, aber anscheinend kannte auch Lily Gilbert Grenzen. Sie ließ sich neben ihn aufs Sofa sacken und starrte geistesabwesend auf den Fernseher, der ohne Ton lief. Sie trug immer noch ihren Overall in Kindergröße, aber sie hatte ihr kurzes silbergraues Haar mit einem blauen Baumwollkopftuch bedeckt, wie sie es immer tat, wenn sie sauber machte. Das Kopftuch irritierte Marty. Er fragte sich, ob sie als junges Mädchen ihr Haar lang getragen und es mit dem Kopftuch nach hinten gebunden hatte, und ob sie das Kopftuch wohl nur aus lauter Gewohnheit beibehalten hatte, obwohl das lange Haar längst Vergangenheit war. Er versuchte sich Lily mit langem Haar vorzustellen, aber mit ihrem kleinen, alten Gesicht und den Augen, die durch ihre Brille vergrößert wurden, sowie vier Glas Scotch im Bauch sah er nur E.T. nachdem die Kinder ihm eine Perücke übergestülpt hatten.
«Ich denke, das Haus ist sauber genug», verkündete sie, um jede Vermutung, sie habe sich nur hingesetzt, weil sie von Marty dazu aufgefordert worden war, im Keim zu ersticken.
«Der Teppich ist fast kahl. Ja, ich würde sagen, es ist sauber genug.» Marty schenkte ihr einen Fingerbreit Scotch ein. «Hier.»
Sie sah ihn missbilligend an. «Du willst nur nicht allein trinken, ist es das?»
«Ich habe kein Problem damit, allein zu trinken. Du brauchst etwas Entspannung.»
«Ich mag keinen Scotch.»
«Möchtest du etwas anderes?»
Sie blickte lange auf das Glas, nahm schließlich einen Schluck und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. «Schmeckt ja grauenhaft. Wie kannst du das nur trinken?»
Marty zuckte die Achseln. «Man gewöhnt sich dran.»
Lily versuchte zögernd einen weiteren Schluck. «Moreys Scotch ist besser. Immer noch schlecht, aber besser als dieser hier. Der ist billig, nicht wahr?»
Er reagierte mit einem leisen Lächeln. «Stimmt.»
Lily nickte, stand auf und verschwand in die Küche. Kurz darauf kam sie mit einer Flasche fünfundzwanzig Jahre altem Balvenie wieder.
Marty bekam den Mund nicht zu. «Mein Gott, Lily, weißt du, wie viel das Zeug da kostet?»
«Sollen wir es deshalb nicht trinken? Meinst du, man kann eine halb volle Flasche Scotch bei eBay verkaufen?»
Marty wusste nicht, worüber er mehr erstaunt sein sollte – dass Lily eine zweihundert Dollar teure Flasche Scotch rangeschleppt hatte oder dass sie über eBay Bescheid wusste.
Sie saßen ruhig nebeneinander, tranken Scotch und starrten auf den stummen Fernseher. Weil der Augenblick so ungewohnt entspannt war, fühlte sich Marty fast versucht, ihr alles zu erzählen. Einfach damit herauszuplatzen und sich nicht um die Konsequenzen zu scheren.
Plötzlich sah er Jack Gilbert, der ihn vom Bildschirm angrinste. Er blinzelte ein paar Mal, überzeugt, dass es sich nur um eine Halluzination handeln konnte, aber das grinsende Gesicht wollte nicht verschwinden. «He, da ist Jack. Mach mal lauter.»
Lily
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